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12.01.2002 Der Roschsee gab und nahm

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. Januar 2002


Der Roschsee gab und nahm
von Hilde Mursa

Zum letzten Mal in diesem Jahr wollte mein Vater mit den Fischern Brodowski und Wirdzok an jenem unglücklichen Tag im Advent 1898 auf den See hinausfahren. Die Oberfläche begann schon zuzufrieren, und so war die letzte Chance zu nutzen, bevor auf einer tragfähigen Eisfläche mit der Eisfischerei begonnen werden konnte.

Mit ihrem gemeinsamen Boot verdingten sich die drei Männer an den Fischpächter, um den Unterhalt für drei kinderreiche Familien zu bestreiten. Zwar lieferte der See Fische im Überfluß, doch die Bezahlung war kärglich und ihr Lebensunterhalt gerade leidlich gesichert. So steckten die Fischer noch einmal die Beine in die hohen Stiefel, deren Schaft bis über die Knie reichte, zogen die schweren Lederschürzen an und fuhren hinaus, um die Netze einzuholen. Das alte Boot war schon lange nicht mehr dicht. Notdürftig wurde es immer wieder geflickt, denn Geld für ein neues war nicht da, und bis dahin hatte es seinen Dienst ja auch noch getan.

An diesem frostigen Dezembertag drang das Wasser schneller ein, als sie es ausschöpfen konnten. Irgendwo draußen auf dem See geschah dann das Unglück. Der genaue Hergang wurde niemals ganz bekannt. Das Boot kam zum Kentern, und die Männer stürzten ins Wasser. Obwohl die drei gute Schwimmer waren, hatten sie in der schweren Fischerkleidung wenig Chancen, sich zu retten. Nur Brodowski konnte sich mit Mühe an das gekenterte Boot klammern und um Hilfe rufen. Bei seinem Kampf ums Überleben verlor er seine Gefährten aus den Augen.

Da das Unglück unweit des Ufers geschah, wurden seine Hilferufe bald im Dorf gehört. Ein eiligst zusammengestellter Rettungstrupp machte die am Ufer liegenden Boote los und fuhr, mit langen Stangen ausgerüstet, den Hilferufen nach. In letzter Minute ehe die klammen Finger den Dienst versagten und das rettende Boot losließen, wurde Brodowski entdeckt. Nach einigem Suchen und Stochern, der See hat in Ufernähe nur eine geringe Tiefe, wurde auch Wirdzok gefunden. Doch für ihn kam die Hilfe zu spät. Die Fischerkleidung hatte ihn in die Tiefe gezogen und das kalte Wasser seinem Leben ein schnelles Ende bereitet.

Inzwischen war es dunkel geworden. So gut es ging, wurde mit Laternen weiter gesucht und der Seegrund mit Stangen abgestochert. Währenddessen leuchteten andere Helfer das Ufer ab. Vergebens!

Stumm vor Angst und Schrecken aneinander geklammert, hatten wir Kinder mit der Mutter die Rettungsaktion vom Ufer aus verfolgt. Nach langen Stunden wurde uns die Nachricht überbracht, daß keine Hoffnung mehr bestünde, den Vater lebend zu finden.

Sobald es am nächsten Morgen hell wurde, fuhr wieder ein Such­trupp, ausgerüstet mit dem großen Schleppnetz, hinaus. Die schmale Wasserzunge, in der sich die Unglücksstelle befand, wurde bis zum Seeboden gründlich abgefischt, doch wieder ohne Erfolg. Ein Weitersuchen wurde unmöglich, die bis dahin dünne Eisdecke verfestigte sich mit jeder Stunde.

In unsere Fischerhütte am Roschsee zog mit dem Winter die bitterste Not ein. Der Ernährer war nicht mehr da, und staatliche Hilfe gab es zu damaliger Zeit nicht. Lediglich die Nachbarn halfen, so gut sie konnten. Sie gaben von dem Wenigen, das sie besaßen, noch etwas ab, soviel sie gerade noch entbehren konnten.

Lang und bang war der Winter 1898/99. Schwer lastete auf uns allen der Gedanke, daß der Vater irgendwo draußen im See lag und ihm kein trockenes Grab beschieden war.

Es war schon März, bis endlich die Frühlingsstürme über das Land und den See brausten und die Eisdecke aufrissen. Tag und Nacht erfüllte das Donnergetöse des berstenden Eises die Luft. Der Sturm trieb die Eisschollen ans Land, um sie dort zu Bergen aufzutürmen.

In einer dieser Sturmnächte hatte die Mutter einen schweren Traum. Sie sah die Leiche unseres Vaters, am Ufer angeschwemmt, unter einem Weidenbaum liegen. Das Traumbild ließ ihr keine Ruhe. Sie bat meine älteren Brüder, an den See zu gehen und das Ufer abzusuchen. Unweit unserer Hütte fanden sie an der Stelle, die ihnen die Mutter beschrieben hatte, den toten Vater. Zusammen mit hilfreichen Nachbarn brachten sie die Leiche nach Hause. Im Flur wurde mit Sand eine Bahre aufgeschüttet und mit Stroh belegt. Mit kurzgeschnittenem Tannenreisig wurden Bahre und Raum schlicht, aber würdig geschmückt. Nun konnte der Tote, wie es sich für einen Christenmenschen geziemt, aufgebahrt werden.

Für die Männer des Dorfes war es eine Ehrenpflicht, bis zur Beisetzung abwechselnd Totenwache im Trauerhaus zu halten. Im Schein der Öllampe saßen sie mit uns zusammen und sprachen über den Toten, sein Leben und sein tragisches Sterben, das waren sie ihm schuldig. Einem jeden von ihnen war bewußt, daß dieses Los auch sie selbst täglich treffen konnte, daß der See, der ihnen Nahrung und Verdienst sicherte, auch immer wieder Opfer forderte.