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19.01.2002 Deutsche unterm NS-Regime: Überrasschend »normal«

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Januar 2002


Deutsche unterm NS-Regime:
Überraschend »normal«
Psychologe untersuchte Durchschnittsbürger 1933-1945 
von Hans-Joachim v. Leesen

Es ist nicht vorstellbar, daß etwa im Jahre 1970 leidenschaftliche Diskussionen in der Öffentlichkeit geführt worden wären über das Verhalten der Menschen zur Kaiserzeit. Wie sich die verschiedenen Bevölkerungsschichten vor 1918 den Zeitereignissen gegenüber verhalten haben, welche Ansichten sie vertraten, das wären nur noch Themen der historischen Forschung gewesen.

Heute hingegen ist die Haltung, die die Deutschen in der Zeit von 1933 und 1945 einnahmen, oft Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen. Da werden von Jüngeren heftige Beschuldigungen ausgesprochen. Enkel belehren Großeltern, wie sie sich hätten damals benehmen sollen, und hämmern ihnen ein, was sie seinerzeit getan oder nicht getan haben, womit sie sich schuldig gemacht haben und wie sie wiedergutmachen sollten. Und die Großeltern stehen staunend vor der Besserwisserei, haben sie doch die Zeit in ganz anderer Erinnerung. Die 20- und 30jährigen aber lassen solche Erinnerung nicht zu; ihnen hat man mittels Schule und Fernsehen anderes beigebracht.

Da wirkt es befreiend, wenn sich ein ausgewiesener Wissenschaftler des Themas angenommen und die Erfahrungen, Einstellungen und Reaktionen deutscher Normalbürger in der Zeit von 1933 bis 1945 zum Gegenstand umfangreicher Untersuchungen gemacht hat. Fritz Süllwold, ab 1965 Ordinarius für Psychologie an der Johann- Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/Main und zwanzig Jahre lang einer der Herausgeber der renommierten „Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie“ sowie Autor zahlreicher einschlägiger wissenschaftlicher Arbeiten, hat 1999 mit einer von ihm ausgeklügelten Methode kompetente und seriös erscheinende Zeitgenossen der nationalsozialistischen Zeit, Menschen der Jahrgänge 1907 bis 1927/28 aus allen deutschen Landschaften befragt. Die Ergebnisse legt er nun in einem geradezu aufregenden Buch unter dem Titel „Deutsche Normalbürger 1933-1945“ vor.

Psychologe Süllwold bediente sich einer ausgefeilten Befragungsmethode. Er hat nicht etwa die Zeitzeugen über ihre eigene damalige Einstellung erzählen lassen. Dabei hätten sich zu viele Erkenntnisse eingeschlichen, die der Betreffende erst im Laufe der späteren Jahrzehnte gewonnen hat; die Versuchung wäre zu groß gewesen, die eigenen Erinnerungen zu schönen. Solche Fehlerquellen vermeidet Süllwold, indem er die Zeitzeugen fragt, wie sie die damaligen Einstellungen ihrer Umgebung zu Ereignissen, Vorstellungen usw. einschätzen.

So wurden die Antworten weitgehend objektiviert. Kontrollfragen an anderer Stelle dienten dem Ausschalten von Widersprüchen. Auf diese Weise ist ein weitgehend zu generalisierendes Meinungsbild entstanden, das weit abweicht von dem, was man heute den damals handelnden Normalbürgern unterstellt.

Als Normalbürger bezeichnet Süllwold Menschen, die seinerzeit keine herausragende Position einnahmen. Da es ihm um kompetente und seriös erscheinende Zeitgenossen ging, ist das Bildungsniveau der Befragten überdurchschnittlich hoch; 82 Prozent weisen einen Gymnasial- oder Oberschulabschluß auf. 194 Fragen legte er seinen Probanten vor. Hier einige aufschlußreiche Beispiele:

Auf die Frage, wie viele Menschen damals den wirtschaftlichen Aufschwung und die Verminderung der Arbeitslosigkeit nach 1933 auf die neue Regierung zurückführten, lautete die Antwort: 98 Prozent. Die Nationalsozialisten erschienen also als Retter aus der existentiell bedrohlichen wirtschaftlichen Not. 96 Prozent hielten die Preise für Lebensmittel und Hausrat damals für angemessen. Das Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit, nach Autarkie, das die damalige Regierung verfolgte, wurde von 71 Prozent der Normalbürger bejaht. Löhne und Gehälter betrachteten 84 Prozent als angemessen. 92 Prozent schätzten die damalige Arbeitsdisziplin und Arbeitsmoral hoch ein, 85 Prozent bezeichneten die „Deutsche Arbeitsfront“ in der Regel oder in vielen Fällen als Sachwalter der Interessen der Arbeitnehmer.

Die Existenzsicherung im Alter wurde damals von 96 Prozent als zuverlässig und ausreichend angesehen. Unterstützung bei Krankheit und anderen Notfällen war für 46 Prozent ausreichend, bei 52 Prozent sogar gut.

Die Schaffung des preiswerten Radiogeräts „Volksempfänger“, die auch unbemittelten Bürgern die Anschaffung eines Rundfunkgerätes ermöglichte, wurde von 79 Prozent als vorbildliche soziale Tat eingestuft. 92 Prozent gar betrachteten die Organisation „Kraft durch Freude“, die beispielsweise auch armen Mitbürgern Urlaubsreisen zu erschwinglichen Preisen anbot, als eine „vorbildliche soziale Großtat“.

Das Verhalten der Beamten wird von 96 Prozent als korrekt, von 20 Prozent als hilfsbereit und von 19 Prozent als arrogant und von fünf Prozent als uninteressiert bezeichnet. Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit bescheinigen 79 Prozent den Beamten „in der Regel“, 17 Prozent sogar „oft“, nur vier Prozent nie oder selten.

Das Verhalten der damaligen Polizei wird von 72 Prozent der Bürger als korrekt, von 20 Prozent sogar als freundlich, von 23 Prozent als hilfsbereit und von 17 Prozent als überheblich, unfreundlich oder rücksichtslos gekennzeichnet. 64 Prozent der Normalbürger fühlten sich durch Justiz und Polizei hinreichend geschützt, weitere 35 Prozent auch, allerdings nur dann, wenn keine Politik im Spiel war.

Die Leistungsanforderungen an Schulen, so beobachteten die Befragten, wurden von 98 Prozent der Normalbürger als angemessen bezeichnet, ebenso wie die Disziplin (92 Prozent). Aufschlußreich, daß nur 47 Prozent der Bürger meinten, Lehrer seien überzeugte Nationalsozialisten gewesen.

Auf die Frage, wovon damals die Bildungs- und Förderungschancen der Schüler abhängig waren, meinten nur zehn Prozent, „vom Einkommen der Eltern“, während 90 Prozent geistige Leistungsfähigkeit und Begabung anführten.

Befragt nach dem Verhältnis der Ehepartner in der Zeit des Nationalsozialismus, glaubten die Befragten, 94 Prozent der Normalbürger seien der Ansicht gewesen, Mann und Frau seien gleichrangig. Sie meinten allerdings beobachtet zu haben, daß 46 Prozent der Bürger davon ausgingen, die Frau habe sich dem Manne unterzuordnen. Welche Grundhaltung nahmen die damaligen Normalbürger den Frauen gegenüber ein, wurde gefragt.

Die Antwort: 82 Prozent haben beobachtet, daß die Frau als Hausfrau und Mutter geehrt wurde, 55 Prozent als Mittelpunkt der Familie (Doppelnennungen waren möglich), 27 Prozent meinten, die Frau sei damals beruflich unterbewertet gewesen und acht Prozent vertraten die Ansicht, die Bürger hätten die Frau im Vergleich zum Manne als weniger leistungsfähig bezeichnet.

Älteren Menschen wurden von 72 Prozent der Bürger damals Respekt und Verehrung entgegengebracht, 32 Prozent hatten beobachtet, daß man Ältere wegen ihrer wertvollen Erfahrungen schätzt. Nur zwei Prozent hatten den Eindruck, die Alten seien als Ballast empfunden worden.

Die Reihenfolge der damals geltenden sozialen Werte und Tugenden ist aufschlußreich: An erster Stelle steht die Pflichterfüllung (90 Prozent), gefolgt von Kameradschaft (75 Prozent), persönliche Disziplin (65 Prozent), Treue (61 Prozent), Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft (56 Prozent), persönliche Ehre sowie Mut und Tapferkeit (jeweils 54 Prozent).

Die Befragungen von Prof. Süllwold ergaben, daß 62 Prozent der Normalbürger generell nicht den Eindruck hatten, einer Schreckensherrschaft ausgesetzt zu sein, während 66 Prozent aber meinten, gelegentlich derartiges gespürt zu haben. 61 Prozent kannten nach den Beobachtungen der Befragten damals nicht den Namen eines einzigen KZs. Soweit sie bekannt waren, galten sie vor dem Krieg als gewöhnliche Straflager insbesondere für Asoziale.

Zur politischen Einstellung: 55 Prozent der Deutschen empfanden den Versailler Vertrag als tief demütigend, 67 Prozent als Ungerechtigkeit, 40 Prozent als unerfüllbar, während nur drei Prozent damals die heute weit verbreitete Meinung vertraten, der Versailler Vertrag der Sieger über die Besiegten sei angemessen und erträglich gewesen.

Der Gedanke der Volksgemeinschaft, also die Überwindung sowohl des Klassenkampfes als auch der Klassenschranken im allgemeinen, galt für 56 Prozent der Normalbürger als fortschrittlich. 25 Prozent meinten, die Idee der Volksgemeinschaft sei unrealistisch oder nur Propaganda. 62 Prozent der Normalbürger beobachteten in ihrer Umwelt bei Kriegsausbruch Niedergeschlagenheit und Bedrücktheit, zwölf Prozent gar Verzweiflung. 72 Prozent gingen davon aus, daß die „kapitalistischen Mächte“ für den Krieg verantwortlich waren. Hitlers mehrfach nach Kriegsausbruch ausgedrückte Friedensbereitschaft war für 69 Prozent einleuchtend. Die Ausweitung des Krieges auf die Sowjetunion wurde von 66 Prozent mit Sorge, von 35 Prozent gar mit Niedergeschlagenheit registriert. Die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutsch- lands wurde von 78 Prozent der Normalbürger als Grund dafür betrachtet, daß Bemühungen um eine vorzeitige Beendigung des Krieges sinnlos gewesen wären. Die Frage, ob die Deutschen gegen Ende des Krieges Angst vor der Rache der Sieger wegen angeblicher deutscher Untaten hatten, wird von nur vier Prozent der Befragten bejaht.

Für manche überraschend mag die Feststellung sein, daß für die Mehrheit der deutschen Normalbürger das Interesse an der Judenfrage nur gering war (so 46 Prozent der Befragten). Nur vier Prozent meinten, die Judenfrage habe eine „große Rolle“ gespielt.

Berührungen zwischen Juden und Nichtjuden waren viel seltener als heute angenommen. Während jüdische Ärzte von 97 Prozent der Normalbürger positiv beurteilt wurden, galt das für nur 36 Prozent im Hinblick auf jüdische Kaufleute. Auf die Frage, wie die Bürger auf die sogenannte Reichskristallnacht am 9. November 1938 reagiert hätten, war die Antwort, man habe nur bei einem Prozent der Bürger Zustimmung beobachtet. Der Rest habe durchweg mit Befremden, bedrückt oder mit Sorge die Ereignisse beobachtet. 48 Prozent hätten, als die Juden aus den deutschen Städten verschwanden, keinen Zweifel an der Erklärung gehabt, sie würden im Osten neu angesiedelt, während weitere 34 Prozent beobachteten, daß Zweifel daran bei nur wenigen bestanden.

Von den Vernichtungslagern im Osten wußten nach Beobachtungen der Befragten 87 Prozent nicht das geringste, während zwei Prozent die Namen solcher Lager kannten. Auf die Frage, wie viele Normalbürger wohl Kenntnis von den Massentötungen von Juden hatten, ergaben die Antworten, daß 68 Prozent nie etwas davon erfahren hatten, während 30 Prozent nur ihnen unglaubwürdige Gerüchte gehört hatten. Auch hier war die Zahl jener, die darüber zuverlässig informiert waren, gering, sie lag bei zwei Prozent.

Hier kann nur ein Ausschnitt aus den für viele wohl überraschenden Ergebnissen der Forschungsarbeit von Prof. Süllwold geboten werden. Wegen seiner Sachlichkeit und wegen der überprüfbaren Ergebnisse verdient das Buch vor allem unter Menschen der Jahrgänge, die Deutschland vor 1945 nicht mehr bewußt erlebt haben, eine weitere Verbreitung, doch ist zu befürchten, daß viele an einer realitätsgerechten Geschichtsschreibung, zu der diese geschichtspsychologische Untersuchung einen wichtigen Beitrag leistet, nicht interessiert sind.

Fritz Süllwold, Deutsche Normalbürger 1933-1945. Erfahrungen. Einstellungen. Reaktionen. 334 Seiten, geb. mit Schutzumschlag. 20,40 Euro / 39,90 Mark. Herbig Verlag, München 2001

„Vorbildliche soziale Tat“? Deutsche vor dem Volksempfänger