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16.02.02 Flucht und Vertreibung / René Nehring über Günter Grass, seine Kritiker und die deutschen Opfer

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 16. Februar 2002


Flucht und Vertreibung:
Das Ende des großen Schweigens
René Nehring über Günter Grass, seine Kritiker und die deutschen Opfer

Am Montag vergangener Woche startete „Der Spiegel“ auf seinem Titelbild eine zeitgeschichtliche Revolution. In bester Hollywood-Manier war da ein dramatisch sinkendes Schiff zu sehen, im Hintergrund ein ernst dreinschauender Günter Grass und in dicken Lettern die Worte: „Die deutsche Titanic“ sowie im Untertitel: „Der neue Grass: Die verdrängte Tragödie des Flüchtlingsschiffes ‚Wilhelm Gustloff‘“.

Einen Tag später zog das gesamte deutsche Feuilleton nach, um weitgehend einhellig das neue Buch des Danzigers und vor allem dessen Haltung zum gewählten Thema zu würdigen.

Der Kerngedanke der Novelle „Im Krebsgang“ ist (eine umfangreiche Rezension folgt in einer der nächsten Ausgaben des Ostpreußenblattes), daß sich Günter Grass seit geraumer Zeit seiner Schuld bewußt ist, in der Vergangenheit über das Thema Flucht und Vertreibung geschwiegen zu haben. So äußert sich Grass als Erzähler in dritter Person selbst zu seinem Verfehlen: „Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Person gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen ... Flucht ... Der weiße Tod ... Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen.“ So weit Günter Grass, wenngleich ihm später noch für einige Winkelschritte in diesem „Krebsgang“ widersprochen werden muß.

Was Grass mit seinen Einsichten auslöste, war eine erstaunlich ernsthafte Debatte. Es scheint, als hätte Grass eine schwere Last von jenen genommen, für die es bisher immer nur deutsche Schuld gab, als hätten sie lange darauf gewartet, daß einer für sie die Dämme bricht.

„Der Spiegel“ gab den Auftakt und nannte die Novelle „eine subtile Art literarischer Selbstkritik“. Rudolf Augstein, Herausgeber und graue Eminenz des Blattes, kommentierte: „Es ist wieder angebracht, der Toten unter den 12,5 Millionen Vertriebenen zu gedenken, die auf ihrer Flucht nach Westen zu Grunde gingen.“ Auch die „Berliner Zeitung“ lobt ausdrücklich den Bekenner Grass, der sich nach seiner großen „Danziger Trilogie“ Mitte der 60er Jahre mit seiner „Hinwendung zur Wirklichkeit“ in den „Tabus zu verfangen“ begann. Der Dichter wird in der Hauptstadtzeitung eher am Rande gewürdigt. Und als sich Grass am Schluß seiner Novelle doch noch in politischer Korrektheit übt, wird dies als „Lindenstraßen-Stil“ geradezu verspottet.

Noch eindeutiger zugunsten des Tabubrechers und zu Lasten des Dichters äußert sich die „Süddeutsche Zeitung“. Auch die „Süddeutsche“, die seit Jahrzehnten mit dem „Spiegel“ und der „Zeit“ die Gralshüterin der öffentlichen Meinung war, greift Grass nun ebenfalls dafür an, daß er am Schluß seiner Novelle wieder politisch korrekt wird! Man glaubt seinen Augen nicht trauen zu können, wenn man liest: „Die Warnung vor den Gefahren des Rechtsradikalismus ... ist so bekannt wie langweilig. Darunter, auf der zweiten Konstruktionsebene der Erzählung, wird es interessanter: Da spielt sich das Melodram einer Generation von Versagern ab.“

Und um zu unterstreichen, daß man wirklich nur den Selbstkritiker Grass würdigt, legt Ulrich Raulff von der „SZ“ am Schluß noch einmal nach: „Der Beifall gilt dem Tabubrecher, der behilflich ist, dem deutschen Gerede ein Thema wiederzugeben, über dem bisher kollektives Schweigegebot lag. Man wird ihn als mutigen Arbeiter am Gedächtnis feiern, man wird ihm auf die Schulter klopfen. Recht geschieht es ihm. Nur mit Literatur hat das nichts mehr zu tun.“

Die „Welt“ konzentrierte sich ganz auf die politische Dimension des Buches. So lautete der Aufmacher: „Das neue Buch von Günter Grass löst Debatte über Vertriebene aus.“ Und auf der Meinungs-Seite 3 wurden unter der großen Überschrift „Vertrieben. Verdrängt. Vergessen?“ gleich mehrere Aspekte thematisiert. Gernot Facius bezog die aktuelle Diskussion um Wiedergutmachung für an Deutschen begangene Verbrechen in die Debatte ein, und Ansgar Graw trug mit dazu bei, gleich von Beginn an zu verhindern, daß sich die Linke ein paar leichte Entschuldigungen für die Versäumnisse zurechtlegt, in dem er an die wirklich zahlreiche Literatur zur Vertreibung erinnert.

Die Generalabrechnung mit der Linken nahm Wolfgang Büsche an gleicher Stelle vor. Büsche beginnt in der Stunde Null, in der sich die Nation daran machte, an den Aufbau zu gehen: „Ihre Intellektuellen aber, ihre Dichter wenden sich von ihr (der Nation - R. N.) ab und halten ein strenges Kriegsgericht. Das Urteil lautet: Im Namen der Schuld, die das deutsche Volk unter Hitler auf sich geladen hat, soll von seinen Opfern künftig geschwiegen werden. ... Kein Gedicht nach Auschwitz lautete ein berühmt gewordener Satz jener frühen Jahre - heute schüttelt man darüber den Kopf. Keine Erinnerung an das eigene Leid - dieser meist unausgesprochene Leitsatz hat wesentlich länger Bestand. Eigentlich bis jetzt.“

Wie sehr die deutsche Öffentlichkeit versagt hat, wird deutlich, wenn Büsche die Fragen nach der Verarbeitung der eigenen Geschichte stellt: „Wo ist der Film über Canaris, wo der Film über den Untergang Breslaus, den ostpreußischen Exodus - alles hochdramatische Stoffe. Warum gibt es keine deutsche ‚Ilias‘, kein deutsches ‚Vom Winde verweht‘. Wohin geht die Trauer um die Verluste, in welchen Katakomben des Bewußtseins verkriechen sich die Sehnsüchte?“

Dabei läßt der „Welt“-Autor auch nicht die üblichen Ausreden durchgehen, nach denen die Erinnerung an die Vertreibung hinderlich für die Aussöhnung mit den Völkern des Ostens gewesen sei: „Es ist eine Sache, der politischen Vernunft zu folgen und die Grenzen anzuerkennen ... Eine andere Sache ist es, diesen Akt der Einsicht mit einem nationalen Exorzismus zu orchestrieren. Sich obendrein selbst aus dem Herzen zu reißen, was an die Verluste erinnert. Ganze deutsche Landschaften sind verschwunden. Geographische. Gebaute. Geistige. Ganze Dialekte und Küchen und Bibliotheken. ... Das Tabu stand fest wie eine deutsche Eiche. Es so lange und so massiv behauptet zu haben war einer der bittersten Siege der deutschen Linken, und es war auch ein Sieg über sich selbst, wie der Fall des linken Heimatberserkers Grass beweist.“ Wie weit die Verdrängung der Linken ging, wird offenbar, wenn Büsche zuspitzt, daß die Romane über den deutschen Osten auch in der alten Bundesrepublik den Status von „Untergrundliteratur“ (!) hatten.

Einen eher besinnlichen Kommentar verfaßte einige Tage später Günter Franzen in der „Zeit“. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage, warum sich Grass erst so spät mit der Vertreibung befaßt. Franzens Antwort: „Im Oktober dieses Jahres wird Günter Grass seinen 75. Geburtstag begehen, und die letzten lebenden Zeugen aus der am Horizont verdämmernden ostdeutschen Provinz treten ab. Sie nehmen die peinigenden Geschichten, die niemand hören wollte, mit ins Grab. Weil ihr Leben unerlöst zu bleiben droht, hat sich der Danziger Trommler vor Einbruch der Dunkelheit noch einmal sehr weit vom sicheren Ufer abgestoßen: Der alte Mann und sein Meer.“ Und am Schluß seines beinahe poetischen Beitrages heißt es: „Vor Sonnenuntergang ist der Nobelpreisträger noch einmal an die Stätten seiner Kindheit zurückgekehrt und hat unsere (!) Toten dem Vergessen entrissen. ‚Warum erst jetzt?‘, fragt er sich auf der ersten Seite seiner Novelle. ‚Man sieht den Wegen im Abendlicht an‘, antwortet sein ferner Kollege Robert Walser, ,daß sie Heimwege sind.‘“

In der Tat fragt man sich: Warum erst jetzt? Weil man peinlich berührt war im Westen von den armen Brüdern und Schwestern aus Pommern, Schlesien und Ostpreußen, die oft völlig zerlumpt als Bettelnde eines Tages vor der Haustür standen? Weil man froh war, daß es andere waren, welche die härteste Last für den verlorenen Krieg zu tragen hatten? Oder, weil es Teil des nicht nur von den Alliierten gehegten Wunsches war, die Deutschen umzuerziehen? Auf die Beantwortung dieser Fragen haben die Opfer einen Anspruch, der - auch dies zeigt Grass - nicht verjährt. So ist die jetzt einsetzende Beschäftigung mit dem Thema nur ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Doch in einem Punkt muß Grass in seinen neuen Äußerungen entschieden widersprochen werden, um von vornherein zu verhindern, daß das Aufbrechen alter Tabus gleich zu neuen Legenden führt; nämlich die Aussage, man habe das Thema den „Rechtsgestrickten“ überlassen. Es war eben nicht so, daß sich nach 1970 nur noch die „Rechten“ für Ostdeutschland interessierten, sondern im Gegenteil wurde jeder, der sich dieses Themas annahm - gleich welcher politischen Couleur er in Wirklichkeit war -, zum „Rechten“ gemacht.

Der Einspruch gilt - leider - auch Rolf Schneider, der in der „Welt“ zu dieser Situation schrieb: „Abweichende Haltungen versammelten sich unterm Dach der Vertriebenenverbände, die mehr und mehr in die Rolle von Revanchistenclubs abgedrängt wurden. Bis sie es wirklich waren.“ Diese Unterstellung mißachtet, daß die Vertriebenen ihre Positionen nie verändert haben. Es war die übrige politische Landschaft - dies soll hier nicht kommentiert werden -, die sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Zum anderen sind es fast ausschließlich gerade die vermeintlich „revanchistischen“ Vertriebenen, die seit Jahrzehnten den in der Heimat lebenden fremden Menschen stets geholfen haben, zu einer Zeit, als die deutsche Nachkriegspolitik ihre Hände in den warmen Schoß gelegt hatte.

Im Zusammenhang mit Günter Grass darf auch die Rolle der meinungsbildenden Presse nicht außer acht gelassen werden. Auch sie hat jahrzehntelang geschwiegen. Wenn eine Tageszeitung 50 Jahre lang an sechs Tagen in der Woche erschienen ist, hatten ihre Mitarbeiter in 15.600 Ausgaben Gelegenheit, sich mit den deutschen Opfern des Krieges zu befassen. So ist die Detailfülle, mit der der „Spiegel“ die letzten Stunden der „Gustloff“ rekonstruiert, geradezu verräterisch. Warum denn muß nach unzähligen Titanic-Filmen ausgerechnet dem deutschen Leser erklärt werden, daß die wirklich größte Schiffskatastrophe aller Zeiten seine eigenen Landsleute getroffen hat?

Praktisch nie in den vergangenen Jahrzehnten hat sich einer der Meinungsführer dieses Landes in die Lage der deutschen Geschändeten, Geprügelten und Gemordeten versetzt. Die Leitartikler dieser Republik, die sich nun über den Suchenden Günter Grass äußern, waren jedoch immer dabei, wenn es galt, von deutschen Tätern zu reden. Hier bedarf es einer viel umfassenderen Aufarbeitung der eigenen Rolle im großen Verschweigen, als dies bei Grass der Fall ist.

Für die deutschen Vertriebenen tut sich am Ende ihrer langen Odyssee ein großes Stück Genugtuung auf. Es läuft seit geraumer Zeit eine Diskussion über das massenhafte Grauen, das Deutschen im und nach dem Zweiten Weltkrieg widerfahren ist. In diesem Prozeß haben die Vertrie- benen noch viel zu sagen - auf ruhige, aber eindringliche Art, so wie sie es seit Kriegsende getan haben.

Die Deutschen aus dem Osten haben sich stets zur ungeteilten Nation im Sinne einer Familie bekannt. Nicht ohne Grund heißt die Hilfsaktion der Landsmannschaft Ostpreußen für die Landsleute in der Heimat „Bruderhilfe“. Galt dieser Familienbegriff bisher eher geographisch, sollten wir ihn jetzt auf die politische Landschaft übertragen. Soll heißen, wenn die Vettern und Basen vom „linken“ Familienzweig sich wieder zu „unseren Toten“ (Günter Franzen) bekennen, sollten wir ihnen die Aufnahme nicht verweigern.

Voraussetzung aber ist eben eine Einstellung wie die Günter Franzens, der in der „Zeit“ nicht nur die Pommern, Schlesier und Ostpreußen wieder zu Ostdeutschen (!) werden ließ, sondern auch das eigene Versäumnis eingestand.

Grass, der Danziger Nobelpreisträger, hat sich auf seine alten Tage den Ballast von der Seele geschrieben. Einsam, wie es sich für einen Dichter gehört, hat er sich von Lübeck, in dessen Nähe er seit Jahrzehnten wohnt, über die Ostsee nach Hause gemacht. Jetzt, wo er schon an der Stelle ist, an der die „Gustloff“ ihr Ende fand, ist es nicht mehr weit bis nach Danzig. Dann ist auch Günter Grass heimgekehrt.