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09.03.02 Walter Kempowski beschreibt in seinem Tagebuch 1989 die Wiedervereinigung

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. März 2002


Bissig, dreist und erhellend
Walter Kempowski beschreibt in seinem Tagebuch 1989 die Wiedervereinigung

Alkor heißt der kleine Stern im Großen Bär, den der Volksmund auch „Reiterlein“ oder „Augenprüfer“ nennt, weil sein Erkennen mit bloßem Auge als Sehtest gilt. Ein vergleichbarer, intellektueller Lackmustest waren die Jubiläen und Ereignisse von 1989. Der Schriftsteller Walter Kempowski, Verfasser bedeutender Bücher wie „Tadellöser & Wolff“ und „Echolot“, hat sein ’89er Tagebuch daher ebenfalls „Alkor“ betitelt. Es enthält politische Betrachtungen, autobiographische Reflexionen, Arbeitsnotizen und Alltagsbeobachtungen, die einen kleinen „Dorfroman“ ergeben. Den täglichen Eintragungen vorangestellt sind Schlagzeilen aus „Bild“ und dem SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“.

Seit 1960 lebt Kempowski im Dorf Nartum südwestlich von Hamburg. Seine ruhigere ländliche Existenz verschafft Kempowski einen Zwischenraum, in welchem er eine hintergründige Lebensklugheit kultiviert, die seinen politisch gänzlich unkorrekten Blick auf seine Umwelt bestimmt.

Kempowski ist für die etablierte Bewußtseinsindustrie in Deutschland ein unverdaulicher Brocken. Seine Außenseiterposition ist in seiner frühen Biographie begründet: 1948 wurde er in seiner Heimatstadt Rostock von den Russen verhaftet und zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht in Bautzen absaß. Er hatte sich für das Beutegut interessiert, das die Besatzer abtransportierten. Sein Bruder mußte sogar neun Jahre hinter Gittern zubringen, seine Mutter als angebliche Mitwisserin sechs Jahre. Als er 1956 nach Westdeutschland kam, verweigerte die ehrpusselige Wirtschaftswundergesellschaft ihm die Anerkennung als politischer Gefangener und eine Entschädigung. Mit der westlichen Verharmlosung kommunistischen Terrors konnte er sich folglich genauso wenig abfinden, wie mit der deutschen Teilung.

Kempowskis Blick fällt auf verschlampte Studentinnen in seinen Gastvorlesungen, auf ungebildete Schüler, die gar nichts, dafür aber alles besser wissen, auf ebenso überzeugungsfeste wie „stockdumme“ Feministinnen. Er ist ein Meister der scharfgestochenenen Miniatur: „In Berlin einen Zivildienstleistenden (schönes deutsches Wort) gesehen, der sich mit behinderten Kindern aus Wasserpistolen beschoß.“ Er spottet über die „68er“ als eine Generation mit „Kraft und Überzeugung (aber wenig Gehirn)“ und ihre „deutsche Art zu diskutieren: sie können nur brüllen“. Er vermerkt den „saueren Kitsch“ deutscher TV-Produktionen: „Unternehmerschweine und edle Ausländer“, die Hartherzigkeit linker Kirchenfürsten („pensionsberechtigte Gottesmenschen“), die sich über DDR-Flüchtlinge mokieren, das eisige Schweigen, mit dem die einst Mao-selige Linke das Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens quittiert, die Nervosität der Meinungsmacher über das Eingeständnis stalinistischer Verbrechen durch die sowjetische Regierung: „Keinen Schritt zurück, sonst gerät ihr Alleinvertretungsanspruch auf Selbstbezichtigung in Gefahr.“

Für den Moraltrompeter Horst-Eberhard Richter, der zwischen Ceaucescus Rumänien und der Bundesrepublik keinen großen Unterschied ausmachen kann, schlägt er einen „speziellen Paragraphen“ vor: „Wer trotz umfangreicher Bildung Beklopptheiten verbreitet, wird mit drei Monaten Bautzen bestraft. Aber nein, lieber nicht, sonst schreiben all diese Leute danach Leidensbücher.“ Bissig kommentiert er die deutsche Geschichtspolitik: „Überlegungen zu Ursache und Wirkung sind in unserem Land sowieso verpönt. Wer das Jahr 1933 mit 1919 in Verbindung bringt, wird zum rechtslastigen Schwein erklärt, und aus ist es mit der Demokratie.“

Am 13. November anläßlich des Kanzler-Besuchs in Schlesien heißt es: „Kohl in Polen. Das verfallene Kreisau. Die Polen hatten keine Ahnung von der Bedeutung des Ortes. Nun wollen sie wieder Geld. Daß sie riesige Ländereien, ganze Städte und Dörfer kassiert haben, wird nicht erwähnt. Stettin, Breslau … nicht erwähnenswert.“

Soviel Eigensinn fordert den Zorn der Pygmäen heraus. Diese rächen sich prompt, übergehen ihn bei Preisverleihungen, kippen Fernsehinterviews aus dem Programm, enthalten ihm Einladungen vor. Als im Herbst 1989 der „Spiegel“ mit der politischen Totschlagkeule droht, spürt Kempowski die Gefahr des sozialen Kältetodes. Gegen die „von Schwachköpfen kanonisierte Meinung“ ist nicht anzukommen, der „Meinungsterror hat sich derartig verschärft, daß man um seine Existenz fürchten muß. Einziger Ausweg: sich dumm stellen.“

Mit Anteilnahme, Begeisterung, dann mit hellsichtiger Skepsis, verfolgt er die Vorgänge in der DDR. Rasch erkennt er, daß es dieser Revolution auf Sparflamme an charismatischen Figuren, an intellektueller Kompetenz und politischen Strategien fehlt. „Heute hat die SED gefordert, die Demonstrationen müßten gewaltfrei sein. Was man von den Untersuchungskellern der Stasi hört, klingt aber nicht sehr friedlich.“ Zu den SED-Machthabern: „Im Altertum hätte man diese Leute sofort umgebracht. Nachdenklich macht es, daß drüben niemand zu Schaden gekommen ist. Eigentlich unnatürlich.“ Am 19. November („Ich fürchte, es ist aus!“) sieht er ein gesamtdeutsches „End-Elend“ heraufziehen. Am 29. Dezember 1989 hat die SED/PDS ihr Plätzchen im westdeutschen System gefunden, das „Neue Deutschland“ verkündet: „Für Sicherheitspartnerschaft gegen Neofaschismus“. Kempowski am 31. Dezember resignierend: „Es fehlte das Blut. (…) Die bürgerliche Revolution wurde nicht besiegelt.“

„Alkor“ wurde an der Peripherie der bundesrepublikanischen Gesellschaft verfaßt, von wo aus es äußerst zielgenau ins Zentrum der Republik trifft. Thorsten Hinz

Walter Kempowski: Alkor. Tagebuch 1989, Albrecht Knaus Verlag, München 2001, 593 Seiten, 29 Euro