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30.03.02 / Ideengeschichte: Preußische Tugenden

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. März 2002


Ideengeschichte: Preußische Tugenden
Zwischen Staatsräson und Idealismus
von Frank-Lothar Kroll

Die Erörterung dessen, was man, besonders in der Rückschau, als "preußische Tugenden" zu bezeichnen pflegt, zählt zu den beliebtesten Gesprächsthemen, wenn im Kreis einer breiteren Öffentlichkeit von den Formkräften und Folgewirkungen dieses Staates die Rede ist. Bestimmte Eigenschaften beziehungsweise Verhaltensweisen wurden respektive werden hier immer wieder vorrangig genannt: Schlichtheit, Sparsamkeit und Gewissenhaftigkeit gehören dazu, Bescheidenheit und Selbstdisziplin ebenso wie Pflichtbewußtsein, Verantwortungsgefühl und Einsatzfreude, aber auch das Bemühen um Redlichkeit, Anstand und Unbestechlichkeit sowie die Bereitschaft zu Dienst und Leistung, zu Opfer und Verzicht. Mit Recht ist im Rahmen des über derartige Tugenden geführten Dis- kurses von den verschiedensten Seiten darauf hingewiesen worden, daß derartige Eigenschaften keineswegs nur in Preußen anzutreffen waren beziehungsweise sind. Und für sich genommen, losgelöst von ihrem spezifischen geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext, besagt der angeführte Tugendkatalog ohnehin nicht viel, weil er sich in anderen, negativ konnotierten Sinnzusammenhängen sehr rasch auch zu einem Arsenal gravierender Untugenden auswachsen kann. Die Verbiegungen und Verfälschungen des "preußischen Stils" durch den Nationalsozialismus sind bekannt.

Gegenüber solchen Einwendungen und Relativierungen ist zunächst festzuhalten, daß die "preußischen Tugenden" in ihrer klassischen Ausprägung, die sie vorwiegend im 18. und frühen 19. Jahrhundert erfahren haben, niemals Selbstzweck gewesen sind. Sie waren zielorientiert und handlungsethisch motiviert - stets bezogen auf ein überpersönliches, die Einzelinteressen bündelndes Ganzes, auf den Staat und auf die Gemeinschaft als den jeweils real gegebenen Ausdrucks- formen des kollektiven Besten. Damit bilden sie zweifellos ein Kontrastprogramm zu der vom Prinzip des gesellschaftlichen Pluralismus und vom Gedanken individueller Selbstverwirklichung getragenen modernen Massendemokratie, die für die typisch "preußische" Denkweise der "Freiheit in der Gebundenheit des Dienstes" keinen Raum bietet. Insofern waren und sind alle Versuche zur Übertragung "preußischer Tugenden" auf das nach gänzlich anderen - eben massendemokratischen - Prinzipien rechnende politische System der Bundesrepublik Deutschland vor wie nach dem Umbruch von 1989/90 gleichermaßen fragwürdig, während ihre Teilaneignung in der DDR ab Mitte der 1970er Jahre gerade wegen ihrer rein formalen, auf keine positiven Inhalte bezogenen Adaption, zum Beispiel bei der Nationalen Volksarmee, zur Stabilisierung und Legitimierung der Diktatur beige- tragen hat. Die breite Masse der DDR-Bürger ist durch diese Form der "Erbe-Aneignung" nicht unbedingt zugunsten Preußens eingenommen worden.

Andererseits ist, gleichfalls zu Recht, bemerkt worden, daß die unter dem Adjektiv "preußisch" rubrizierten Verhaltensnormen, zeitgemäß anverwandelt, auch einem demokratisch verfaßten Gemeinwesen als grundierende, weil in hohem Maße staatserhaltende Basis sehr wohl zugute kommen können. Um dies einzusehen, braucht man nicht einmal auf die vielfach beklagten Autoritäts-, Hierarchie- und Elitedefizite einer immer stärker dem Gefällig- und Bequemlichkeitsprin-

zip verpflichteten Wohlstands- und Konsumgesellschaft zu verweisen, als welche die Bundesrepublik Deutschland seit den späten 1960er Jahren keineswegs nur der Fundamentalopposition von links gegolten hat und mit zunehmender Berechtigung weiterhin gilt.

Eine substantielle Auseinandersetzung mit dem Problemfeld "preußische Tugenden" ist indes nur möglich, wenn man die Ebene abstrakter Bezüglichkeiten verläßt und den Blick auf die konkreten Inhalte und Leistungen des Hohenzollernstaates in den verschiedenen Phasen seiner historischen Entwicklung richtet. Zu den eigentümlichen, in der Räson dieses Staates begründeten Tugenden zählte zunächst und vor allem eine äußerst tolerant gehandhabte Asylpraxis, die Verfolgten und Flüchtlingen aus ganz Europa Aufnahme und Einbürgerung gewährte und Preußen, weit vor den USA, zum beliebtesten Einwanderungsland der frühneuzeitlichen Staatenwelt machte. Eine solche Politik der religiösen Toleranz gegenüber Andersgläubigen, der Duldung unterschiedlicher Konfessionen innerhalb des preußischen Ländergefüges entsprang ganz bestimmten geschichtlichen Rahmenbedingungen.

Im Jahr 1613 war der damalige brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund (1608-1619) für sich und sein Haus vom evangelisch-lutherischen zum evangelisch-reformierten Glauben konvertiert, ohne dabei von seinen Untertanen denselben Schritt des Glaubenswechsels zu verlangen. Er hatte damit stillschweigend auf das ihm zustehende jus reformandi verzichtet, und alle seine kurfürstlichen respektive königlichen Nachfolger haben dies gleichfalls so gehalten, so daß der preußische Staat bereits im 17. Jahrhundert zu einer Regierungspraxis gelangt war, die sich über die im Heiligen Römischen Reich sonst herrschenden Gepflogenheiten hinwegsetzte.

Während in allen anderen größeren Reichsterritorien das landesherrliche Bekenntnis auch für die jeweiligen Untertanen verpflichtend war und außer den drei reichsrechtlich ab 1648 sanktionierten Religionsgemeinschaften der Katholiken, Lutheraner und Calvinisten offiziell keine weiteren Konfessionen zugelassen wurden, lebten in Preußen zahlreiche religiöse Kleingruppen auskömmlich miteinander beziehungsweise nebeneinander her. Unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640-1688) wurden dann vor allem die seit 1685 in Frankreich massiv diskriminierten Reformierten ins Land gerufen. Die gruppenspezifischen Kenntnisse, Fertigkeiten und Begabungen der zugewanderten ausländischen Exilanten kamen langfristig dem materiellen Wohlstand, der wirtschaftlichen Prosperität und nicht zuletzt den geistig-künstlerischen Formkräften des Landes zugute.

Friedrich der Große (1740-1786) brachte das dahinterstehende Prinzip drastisch zum Ausdruck, wenn er im Jahr 1781 bekannte: "Ein jeder kann bei mir glauben, was er will, wenn er nur ährlich ist. Was die Gesangbücher angehet, stehet einem jeden frei, zu singen: ,Nun ruhen alle Welder' oder dergleichen dummes und thörigtes zeug mer. Aber die priesters die mühsen die tolleranz nicht vergessen, denn ihnen wird keine verfolgung gestattet werden". Daß die so eingeforderte, sprichwörtlich gewordene Religionstoleranz in Preußen dabei ganz wesentlich aus Gründen des staatlichen Nutzens gewährt wurde, verweist auf die enge Verklammerung von Staatsräson und Idealismus, die auch einer Tugend wie derjenigen der Toleranz im Hohenzollernstaat ihren spezifischen, eben ihren "preußischen" Charakter verlieh.

Eine andere Tugend Preußens gehörte zu den gleichfalls immer wieder herausgestellten Aktivposten dieses Staates, die man lange Zeit gerade im europäischen Ausland, etwa in Frankreich, besonders zu schätzen wußte, weil man dort ihre Nichteinlösung im eigenen Land um so schmerzlicher empfand, die Rechtsstaatlichkeit. Sie band die Obrigkeit bereits im 18. Jahrhundert einklagbar an Gesetz und Recht, und auch hier war die Politik Fried-richs des Großen maßstabgebend. Sein Herrschaftsantritt begann 1740 nicht zufällig mit einer Justizreform: der Abschaffung der Folter. Dann folgten Reformen des Kirchen- und Schulrechts, der Rechtspflege und der Justizverwaltung. Das fragwürdige, weil willkürlich gehandhabte Instrument der Kabinettsjustiz ließ der König allerdings bestehen, weil sie ihm als probates Mittel zur Korrektur von richterlichem Machtmißbrauch und behördlicher Rechtsbeugung galt - exemplarisch gehandhabt im Fall des Müller-Arnold-Prozesses und den damit verbundenen Fehlgriffen. Doch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten - erst nach Friedrichs Tod 1794 in Kraft getreten, aber durch ihn auf den Weg gebracht und ganz den aufklärerischen Geist seiner Epoche spiegelnd - hat die Rechtsstaatsidee in allen Provinzen Preußens weitgehend realisiert und das vielzitierte, fraglos vorhandene Janusgesicht dieses Landes zur lichten, kulturstaatlich orientierten Seite hin aufgehellt.

Es war diese Kulturstaatsidee, deren Durchsetzung die Bemühungen herausragender Repräsentanten der preußischen Geschichte vor allem des frühen 19. Jahrhunderts gegolten haben. Denn zu den Tugenden Preußens zählte auch ein beachtliches bildungs- und wissenschaftspolitisches Engagement, das in der staatlichen Förderung der Künste, in der Pflege der Forschung und in der Ausgestaltung der Universitäten ein Aufgabenfeld ersten Ranges erblickte. Nach dem militärisch-politischen Totalzusammenbruch des alten Preußens 1806/07 stellte sich im Rahmen des von den Reformern betriebenen Regenerationswerkes das Problem einer neuen Synthese von Staats- und Kulturidee, von Wohlfahrts-, Rechts- und Machtgesinnung. Das Humanitätsideal der zeitgenössischen deutschen Bildungswelt, nach welchem der einzelne vor allem durch geistiges und sittliches Reifen einer Erneuerung der Gemeinschaft zuzuarbeiten vermochte, bewegte viele der Reformer nachhaltig - am stärksten wohl Wilhelm von Humboldt (1767-1835), der in seiner Eigenschaft als Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium 1809/10 die Bildungsidee als ein bestimmendes Element der Staatsidee zu forcieren gesucht hat. Er vertrat, wie die meisten Reformer, die Überzeugung, daß der erneuerte preußische Staat nicht primär, wie in der vorangegangenen Epoche, eine Macht- und Wohlfahrtsidee, sondern, weitaus stärker, eine Bildungsidee zu artikulieren habe. Geist und Bildung sollten nicht unabhängig vom Staatsleben als privater Bereich existieren, sondern im Staat selbst waren Raum und Möglichkeit zur Entfaltung von Geist und Bildung zu schaffen. Der Staat hatte Macht und Geist miteinander zu versöhnen. Geistige Prinzipien sollten den Staat formen, und der Staat sollte als Hüter dieser Prinzipien Gestalt und Profil gewinnen.

Wir wissen heute um die Problematik einer solchen Metaphysik des Kulturstaates, und auch den Reformern von 1806 blieb es nicht erspart, die Grenzen des von ihnen vertretenen Ideals einer Identität von Bildungsidee und Staatsidee zu erfahren, jener Bildungsidee, die sie für die Staatserneuerung fruchtbar zu machen gedachten. Gleichwohl lebte die so formulierte Bildungsidee in Preußen noch lange fort - am stärksten wohl im Zeit- alter Friedrich Wilhelms IV. (1840-1861), der für seine Person - nicht freilich in seiner Politik, die an den Bedürfnissen der Zeit völlig vorbeizielte - all jene Tugenden verkörperte, die man dem "geistigen Preußen" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der unbestrittenen künstlerisch-kulturellen Blütezeit des "Spree-Athen", zugesprochen hat. Kunst- und Wissenschaftspflege erreichten unter diesem geistvollen und künstlerisch aktiven Monarchen eine Intensität wie nie zuvor und niemals wieder.

Doch selbst noch Wilhelm II. (1888-1918) hat beträchtlichen Eifer für den Ausbau des preußisch-deutschen Kulturstaates gezeigt. Seine wissenschafts-, bildungs- und hochschulpolitischen Interessen reichten von der aktiven Förderung ethnologischer und archäologischer Forschung über den Einsatz für die sich neu formierenden Technischen Hochschulen und für den Professorenaustausch mit den Vereinigten Staaten bis hin zur vielgerühmten Gründung der "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften". Eine solche Interessenspanne wurde von keinem zeitgenössischen Monarchen gehalten. Auch sie markiert eine Facette im Tugendkatalog des preußischen Staates und seiner Regenten - selbst wenn man Wilhelms II. totale Verständnislosigkeit für die ja gerade in seiner Regierungszeit zum Durchbruch gelangende literarische und künstlerische Moderne dagegen aufrechnet.

Neben den drei bisher erörterten Einzugsfeldern preußischer Tugenden - Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Bildungsidee - ließen sich noch zahlreiche andere entsprechende Aspekte anführen - etwa die Vorbildlichkeit der preußischen Verwaltung oder das Streben nach einer sozial engagierten Politik, die nicht erst seit der Sozialgesetzgebung Otto von Bismarcks (1815-1898) der Obrigkeit die Sorge für das Wohl auch und gerade der ärmeren Bevölkerungsschichten zur Pflicht machte. Indes, wer, wie hier im Vorstehenden, von Preußens Tugenden spricht, darf auch von dessen Lastern nicht schweigen, zum Beispiel der vielbeschriebenen Militarisierung der gesamten Sozialverfassung, die unter Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) begann und in einem bis dahin nicht erlebten Ausmaß zur systematischen Hinordnung von Staat und Gesellschaft auf die Bedürfnisse der Armee führte.

Als typisch preußische Untugenden galten respektive gelten sodann vielen Kritikern, besonders im Süden und Westen Deutschlands, die aufdringlichen, teilweise parvenühaft wirkenden Manieren des Menschen der Gründerjahre nach 1871. Das Laute und Auftrumpfende, oftmals Taktlos-Anmaßende und überheblich Wirkende im Auftreten, die nervöse Betriebsamkeit, Hektik und Ungeduld beim Verfolgen auch der kleinsten Ziele, demonstrativ zur Schau gestellte Machtstaatsattitüde als Kompensation latenter innerer Unsicherheit, der völlige Mangel an Gelassenheit und an der Fähigkeit, sich selbst im Interesse der Sache zurückzunehmen - alle diese nicht zuletzt von Theodor Fontane (1819-1898) subtil decouvrierten Untugenden sind freilich mentale Phänomene der preußischen Spätzeit. Und vieles spricht für die Annahme, daß in jenen Jahren nach 1871 nicht etwa Deutschland einem emporkömmlingshaften preußischen Unwesen zum Opfer gefallen ist, sondern umgekehrt, Preußen durch den deutschen Beruf verdorben wurde. Es übernahm die abstoßenden Züge nationalistischen deutschen Imperialstrebens, um zugleich die positiven Eigenschaften altpreußischer Schlichtheit abzulegen.

So wäre es denn sehr verfehlt, die Leistungen Preußens, seine Strahlkraft als historisches Phänomen heute, seine Möglichkeiten und seine Grenzen, von dieser letzten, für das Gesamtbild keineswegs repräsentativen Phase seiner Geschichte aus zu beurteilen. Dies gilt nicht zuletzt für die oftmals übersehene Tatsache, daß im alten Preußen, ganz im Gegensatz zu den spätzeitlich-neudeutschen Deformierungen, das Prinzip der Nationalität niemals hoch im Kurs stand. Im Gegenteil. Der Hohenzollernstaat verdankte seinen Aufstieg zu europäischem Rang gerade nicht irgendwelchen ethnisch-nationalen, ja nicht einmal stammesgeschichtlich-geographischen oder landschaftlich-regionalen Antriebskräften, sondern der bemerkenswerten Fähigkeit, die sich zu ihm zählenden Bürger unter einer übergeordneten Idee zielbewußt zu integrieren - der, wenn man so will, intellektuellen Strahl- und Spannkraft seiner Staatsidee, die es immer wieder vermocht hat, führende Köpfe innerhalb wie vor allem auch außerhalb Deutschlands in ihren Bann zu ziehen. Daß es in diesem Sinne keine "preußische Nation" gegeben hat, machte für viele zeitgenössische Beobachter die besondere Anziehungskraft dieses Staates aus und sollte, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, auch in einer sich neu formierenden Bundesrepublik Deutschland angesichts enger gewordener europäischer Zusammenhänge bedacht werden. Denn wo wären die preußischen Tugenden in ihrer beschriebenen positiven Ausprägungsform heute besser aufgehoben als in einem internationalen, einem gesamteuropäischen Bezugsfeld?

 

NVA-Angehörige im Stechschritt: Die DDR-Armee war beipielhaft für preußische Formen ohne preußische Tugenden.