19.04.2024

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06.04.02 / Im Gespräch: Rudolf Kucera

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 06. April 2002


Im Gespräch: Rudolf Kucera
Jahr der Entscheidungen
Tschechisches Plädoyer gegen deutschfeindliche Kollektivschuld-Vorwürfe

Professor Kucera, welches sind zur Zeit die Schwerpunkte Ihrer politischen Tätigkeit?

Kucera: Arbeitsmäßig bin ich sehr ausgelastet, denn in diesem Jahr ist in der Tschechischen Republik über viele wichtige Fragen zu entscheiden, die unser Leben für lange Zeit beeinflussen werden.

Im Juni finden die Wahlen in die Abgeordnetenkammer und im Herbst zum Senat statt. Anfang nächsten Jahres wird dann der Präsident gewählt, der im tschechischen Staat traditionell eine erhebliche politische Rolle spielt.

An der Prager Karlsuniversität bin ich als Direktor des Instituts für politische Studien der Sozialwissenschaftlichen Fakultät tätig; ich lehre politische Wissenschaft, und gleichzeitig versuche ich, durch Beratertätigkeit Parteien behilflich zu sein, die assoziierte Mitglieder der Europäischen Volkspartei sind, das heißt vor allem der KDU-CSL und der Union der Freiheit.

Sie waren bereits vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in der damaligen Tschechoslowakei im Untergrund aktiv. Wie haben Sie die Zeit der kommunistischen Diktatur erlebt?

Kucera: Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs arbeitete ich elf Jahre auf dem Bau, weil ich wegen meiner Zusammenarbeit mit der Charta 77 Berufsverbot hatte.

Während dieser langen Zeit war ich auch intellektuell tätig. Im Samizdat rief ich die Zeitschrift Mitteleuropa ins Leben und veranstaltete wissenschaftliche Seminare in Privatwohnungen. Es bedeutete eine große physische und psychische Belastung, denn für all das hatte ich erst Zeit nach ganztägiger körperlicher Arbeit. Überdies wurde ich öfter vom tschechischen Staatssicherheitsdienst belästigt.

Noch vor der "Samtenen Revolution" gründete ich die Paneuropa-Union Böhmen und Mähren, deren Präsident ich heute bin. Schon 1991 veranstaltete ich mit meinen Freunden - als erste bei uns und wahrscheinlich auch in anderen postkommunistischen Ländern - eine internationale Konferenz über Verbrechen des Kommunismus.

Haben Sie die Trennung der Tschechischen Republik und der Slowakei vorhergesehen?

Kucera: Bereits in den ersten Monaten der demokratischen Tschechoslowakei zweifelte ich nicht daran, daß dieser Staat zerfallen wird. Denn die CSR entstand 1918 als ein pseudonationaler Staat, weil die Tschechen und Slowaken vor den großen und entwickelten Volksgruppen der Sudetendeutschen und Ungarn Angst hatten, die keinen entsprechenden Anteil an der politischen Macht bekamen und denen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wurde.

Nachdem die kommunistische Diktatur vorbei war und in den böhmischen Ländern seit der ethnischen Säuberung in der Nachkriegszeit ein reiner Nationalstaat existierte, gab es keinen zwingenden Grund, weshalb die Tschechen und Slowaken in einem komplizierten Föderalstaat leben sollten.

Auf welche Weise hat die Zeitschrift "Mitteleuropa" an der Samtenen Revolution mitgewirkt?

Kucera: Sie spielte eine wichtige Rolle, weil sie ein gewisses Politikerspektrum (Václav Havel, Peter Pithart u. a.) intellektuell beeinflußte. Meiner Ansicht nach inspirierte sie zu einer entgegenkommenden Einstellung gegenüber unseren Nachbarn, vor allem gegenüber Deutschland.

Wie haben Sie persönlich die Revolution und den Sturz des kommunistischen Regimes erlebt?

Kucera: Ich selbst habe die Revolution von 1989, oder besser gesagt die organisierte Machtübergabe, sehr intensiv empfunden. Gleichzeitig hatte ich Zweifel hinsichtlich der weiteren Entwicklung. Denn statt zu einer Revolution kam es zu politischen Vereinbarungen neuer Eliten mit Kommunisten, und bald hat fast niemand mehr an eine Bewältigung der roten Vergangenheit gedacht.

Die KP blieb im Parlament, ein ehemaliges KP-Mitglied, Marian Calfa, wurde Ministerpräsident, und vor allem beteiligten sich die Kommunisten massenhaft an allen Privatisierungsprozessen und gewannen dort sogar den entscheidenden Einfluß. Sie tauschten ihre politische Macht gegen die ökonomische ein.

Die heutige Realität ist manchmal bedrückend. So haben wir eine Regierung, deren Ministerpräsident noch im Jahre 2002 die abscheulichen blutigen Mythen über eine Kollektivschuld der Deutschen verbreitet und unsere österreichischen Nachbarn genauso beschimpft und beleidigt wie die tschechischen Journalisten.

Sie haben vor und während der "Revolution" eng mit dem späteren Präsidenten Havel zusammengearbeitet...

Kucera: Ja, Václav Havel kenne ich persönlich. Unsere Ansichten waren nicht immer identisch, dennoch schätze ich ihn sehr hoch und habe ihn immer für den informellen Kopf der Opposition gehalten. Man muß fürchten, daß der neue Staatspräsident tief unter seinem Niveau sein wird.

Haben Sie während der Wende von einem neuen "Mitteleuropa" geträumt, oder war die EU-Mitgliedschaft Tschechiens von Anfang an ihr Ziel?

Kucera: Anfangs habe ich in der Tat von einer Erneuerung der Region Mitteleuropa geträumt, die durch Jahrhunderte nicht nur kulturell und geistig, sondern auch politisch verflochten war.

Bald jedoch wurde offensichtlich, daß die Existenz von geschlossenen Nationalstaaten mit widersprüchlicher Vergangenheit immer noch ein Hindernis für eine solche Erneuerung ist und daß der einzig mögliche Weg ihre Öffnung gegenüber den europäischen Integrationsprozessen ist.

Gibt es angesichts des langen Weges bis zu einer EU-Mitgliedschaft in Tschechien "Europamüdigkeit"?

Kucera: In Tschechien gibt es zwar eine kleine, aber immer noch eine Mehrheit der Öffentlichkeit, die den EU-Beitritt wünscht. Ein Problem besteht jedoch darin, daß man - sei es seitens der EU oder der CR-Regierung - nicht hinreichend betont, daß die EU keine Organisation ist, die uns massiv finanzieren würde. Daß sie eine Gemeinschaft ist, die feste Regeln hat, denen wir uns anpassen müssen.

Europa ist immer noch gewissermaßen zivilisatorisch geteilt, und die Überwindung der Distanz wird weder schnell noch einfach sein. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat man geglaubt, es reiche, formaldemokratische Institutionen und Regeln einzuführen, um das Schlimmste zu überwinden.

Im Gegenteil: Dort erst beginnt der weite Weg zum Rechtsstaat! Denn zur Demokratie bekennt sich jeder, selbst ein ehemaliger kommunistischer Verbrecher. Aber stets demokratisch denken und handeln - das kann nicht jeder.

Das Europäische Parlament hat die Aufhebung der Benesch-Dekrete gefordert. Wie beurteilen Sie dies?

Kucera: Die Meinung, daß man etwas tun sollte mit den Benesch-Dekreten, die den Gesetzesrahmen für die an der deutschen Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen schafften, teile ich seit langem.

Über die Art, wie dies zu tun ist, sollten die tschechischen und deutschen Repräsentanten reden und einen beiderseits akzeptablen Konsens finden. Vorerst jedoch fehlt dazu auf der tschechischen Seite der Wille, was die jetzige deutsche Regierung politisch deckt.

Das Interview wurde mit freundlicher Genehmigung in gekürzter Form aus der Zeitschrift "Paneuropa" (1/02) übernommen.