20.04.2024

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20.04.02 / Der Nachlaß

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. April 2002


Der Nachlaß
von Renate Dopatka

Der letzte Akt ...", dachte Bea, während sie zusah, wie Mutter und Tante sämtliche Schubladen und Schrankfächer des Großvaters durchforsteten.

Helles Sonnenlicht fiel in die mit altmodisch dunklen Nußbaummöbeln vollgepfropfte Wohnstube. Es herrschte Auflösung. Schranktüren standen offen, Bilder waren von den Wänden genommen, und auf dem Couchtisch türmten sich Gläser und Geschirr, Vasen, Fotoalben und allerlei Nippes, den die Großeltern im Laufe ihres Lebens so angesammelt hatten.

"Das meiste davon können wir wegschmeißen", hörte Bea die Tante jetzt sagen. "Diesen ganzen unnützen Krempel hätte Vater schon damals, nach Mutters Tod, zum Sperrmüll geben können. Aber nein, nichts durfte weggeworfen werden, da war er eisern. - Und wir haben jetzt die Arbeit am Hals ...!"

"Vielleicht hing er ja an den alten Sachen", wandte Bea leise ein. "Das mußte ja kommen!" lachte ihre Mutter, doch es war eher ein gereiztes Lachen. "Du und dein Großvater, ihr wart euch ja auch sonst immer einig. Wenn keiner von uns mehr Lust hatte, sich seine alten Geschichten anzuhören - du hattest immer Lust, stimmt's?"

Ein Schatten huschte über Beas Gesicht. Ja, sie hatten einander verstanden - sie und der Großvater. Seine Gegenwart vermochte über alle Unbilden des Lebens hinwegzutrösten. Selbst als junge Frau hatte sie sich oft zu ihm geflüchtet, wenn der Tag im Büro mal wieder allzu stressig gewesen war oder ein privater Kummer an ihr nagte. Mit dem Auto war es nur eine knappe Viertelstunde Fahrt zu ihm hinaus. Und egal, wie spät es auch war, stets hatte der Großvater sie freudig willkommen geheißen.

Meist traf sie ihn beim Lesen an. Den bequemen Ohrensessel dicht an die Stehlampe gerückt, eine wärmende Wolldecke über die schlecht durchbluteten und daher immer ein wenig kalten Beine gelegt, konnte er sich stundenlang mit seinen Büchern beschäftigen. Seine Regale waren wohlgefüllt mit Reiseliteratur, Biographien und den sogenannten Klassikern. Durch ihn hatte Bea Bekanntschaft mit Herder und Kant geschlossen, hatte Städte wie Mohrungen und Königsberg kennengelernt und sich so eine Welt erobert, von der sie sonst vielleicht nie erfahren hätte.

"Schaut mal, Mutters alte Vase lebt noch!" riß die Stimme der Tante Bea aus ihren Gedanken. "Hat jemand Verwendung dafür -?" Irritiert starrte Bea auf die große kobaltblaue Vase. Ein solches Monstrum in ihrer luftig-hellen Wohnung? Nun, das wäre denn doch ein wenig zuviel des "Guten"... "Und hier - dieser komische Beutel! Was hat mein Vater denn da bloß aufbe- wahrt ...?!"

"Vielleicht Gold?" Die drei Frauen beugten sich neugierig über das vergilbte Leinensäck-chen, das von einem Seidenband zugehalten wurde. "Irgend etwas Hartes ist darin - fühlt sich an wie Kandis."

Der seltsame kleine Beutel kam Bea irgendwie bekannt vor. Und so hielt sie unwillkürlich den Atem an, als die Mutter ihn jetzt vorsichtig aufschnürte. Kleine und größere Bröckchen von gelblichbrauner Farbe lagen darin und dieser Anblick genügte, um in Bea eine ganz bestimmte Erinnerung wachzurufen.

Sie mochte etwa zwei Jahre alt gewesen sein, als der Großvater sie mit dem geheimnisvollen Inhalt dieses Säckchens vertraut gemacht hatte. Damals lebte noch die Großmutter. Deutlich erinnerte sich Bea des nachsichtigen Lächelns, mit dem diese das feierliche Gebaren ihres Mannes bedacht hatte. Ja, er war in sehr eigenartiger Stimmung gewesen, der Großvater. Die Art und Weise, wie er das Säckchen aufknotete, verriet, wie kostbar es ihm war, und behutsam, ja zärtlich, hatte er Bea dann jene honiggelben Klumpen in die Hand gelegt, die er "Bernstein" nannte.

Vieles hatte der Großvater ihr an jenem Tag zu erklären versucht. Besonders wichtig schien ihm der Hinweis zu sein, daß er diese Steine nicht etwa am Ostseestrand, sondern in einem kleinen Flüßchen seiner masurischen Heimat gefunden hatte. Wie es ihm gelungen war, sie über die Zeiten zu retten, darauf vermochte Bea sich nicht mehr so recht zu besinnen. Aber damals wie heute glaubte sie unter der äußeren Härte des Bernsteins dessen eigentümliche Weichheit und Wärme zu spüren... "Was machen wir denn nun damit?" Ratlos schauten die beiden Schwestern auf die gelben Steinchen hinunter. "Man kann sie weder tragen noch verkaufen ..."

"Wenn ihr nichts dagegen habt - mir gefallen sie ganz gut", hörte Bea sich mit etwas rauher Stimme sagen. "Willst du dir einen Ring daraus machen lassen?" fragte ihre Mutter stirnrunzelnd. "Das kommt dich ja teurer, als wenn du ihn fertig im Laden kaufst. Und nur so, als ungefaßte Steine, sind sie ja eigentlich völlig wertlos." - "Nicht für mich", entgegnete Bea leise, aber bestimmt. Und mit derselben Zärtlichkeit, mit der ihr Großvater damals seinen "Schatz" gezeigt hatte, nahm sie jetzt das unscheinbare Beutelchen in Empfang.

Ostpreußen heute: Die Stallungen des Gestüts Georgenburg, im Hintergund rechts die alte Ordensburg

Foto: Leuchert