28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
27.04.02 / Am Strom

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. April 2002


Am Strom
von Heinz Kebesch

In einer Parkanlage mit alten knorrigen, hohen Kiefern und sich breit ausladenden Laubbäumen, blühenden Sträuchern und von Schilfgewächsen umgebenen kleinen Teichen hatte Hermann Rogalsky auf einer schattigen, hölzernen, braunen Ruhebank Platz genommen. Diese durch keinerlei Unruhe gestörte Stätte der Stille und Abgeschiedenheit entsprach so ganz seinem Wunsch, allein zu sein, um sich insbesondere mit seinen seit längerer Zeit aufgetretenen belastenden, privaten Problemen auseinanderzusetzen. Aus der Ferne hörte man lediglich leise verklingend das Rollen von Eisenbahnzügen.

Hermann Rogalsky war ein Mann von mittlerer, kräftiger Statur, breitschultrig, und seine schwieligen Hände zeugten von schwerer körperlicher Arbeit. Sein Wesen zeichnete sich durch Ausgeglichenheit, Güte und Ruhe aus.

Durch die Auswirkungen des verlorenen Ersten Weltkrieges und des litauisch-polnischen Wilnakonfliktes, der zur Folge hatte, daß Litauen in den Jahren nach 1920 den Memelstrom für den Handelsverkehr sperrte, versiegten die für das Erreichen einer normalen Kapazität der Zellstoff-Fabrik Tilsit und Schneidemühlen die notwendigen Holzlieferungen aus Rußland und Polen, so daß die Zahl der Beschäftigten durch Entlassung von Arbeitern erheblich reduziert wurde. So verlor auch Hermann Rogalsky seinen langjährigen Arbeitsplatz bei der Zellstoff-Fabrik.

Mit seiner Familie, seiner Frau Anna und dem 14jährigen Sohn Paul befand er sich in einer beträchtlichen Notlage, die ihm angesichts der dürftigen Versorgung durch die geringe Arbeitslosenunterstützung große Sorgen und auch seelischen Kummer bereitete. Was ihn jedoch im besonderen Maße bedrückte, waren die ständigen Absagen größerer und kleinerer Unternehmen, irgendeine Beschäftigung zu erhalten. Denn auch diese litten unter der eingetretenen Wirtschaftskrise. "Am allerschwersten aber", so murmelte er oft vor sich hin, "am allerschwersten ist es zu ertragen, daß nur wenige Freunde aus dem alten Bekanntenkreis Anteilnahme an meinem Schick-sal, an meiner unverschuldeten Notlage nehmen."

Und so verfloß sein Leben in einförmiger Weise - keine rechte Freude kam in ihm auf. So konnte es nicht ausbleiben, daß er sich aus Verzweiflung in bedrückenden Stunden mehr und mehr dem Alkohol hingab. Seine Frau, die mit Putzstellen die wirtschaftliche Lage der Familie etwas zu verbessern suchte, war über diese sich anbahnende Entwicklung ihres Mannes sehr besorgt und bekümmert. So verlebte sie manche Stunden in banger Hoffnungslosigkeit.

In dieser frühen Morgenstunde im Park hatte er wieder dem Alkohol zugesprochen und war infolge der milden, warmen Mailuft, die den kommenden Sommer erahnen ließ, eingeschlafen. Plötzlich erwachte er von näher kommenden Schritten und sah seinen ehemaligen Jugendfreund Leo Walkmann gemächlich auf sich zukommen. Seine dunkle, abgetragene Joppe schlenkerte um seine dürre Gestalt. Er trug eine ältere, graue Schirmmütze tief in die Stirn gezogen. Hermann streckte ihm seine Hand entgegen und Leo nahm neben ihm auf der Bank Platz. "Schön, daß wir uns mal wiedersehen", begrüßte er Leo. "Na, wie jeht's Hermann?" - "Wie soll's schon jehen, Leo. Ich hab' immer wieder versucht, irgendwo Arbeit zu kriegen. Bald sind zwei Jahre rum, daß ich ohne Arbeit bin. Ich weiß nich', wie's weiterjehen soll," anwortete Hermann niedergeschlagen. "Da können wir uns die Hand jeben. Du weißt ja, vor e Jahr wurde ich wegen Arbeitsmangel von de Schneidemühl Wittmann entlassen. Kein Holz, keine Arbeit! Jetzt hat doch letzte Woch' der Betrieb Pleite gemacht, und ich dacht', meinen alten Arbeitsplatz wieder zu kriegen. Erbarmung, nu is alles aus. Wer nimmt uns noch in unserem Alter. Man darf jar nich denken, dann wird einem ganz wirr innem Kopp. Morge' werd' ich zu unserem Treff auf'm Engelsberg jehen. Is' doch mal e bis'che Abwechslung. Komm' auch hin, Hermann." - "Nei', Leo, laß mich man in Ruh; ich hab' genug Sorgen. Hab' dazu keine Lust", antwortete Hermann verdrossen. "Ja, ja, aber man kommt mal auf andere Gedanken, meinst nich!? Was hilft all' jammern, vleicht wird bald wieder alles besser." Hermann schüttelte nur den Kopf und schwieg dazu. Nach einer Weile verließen sie den Park und strebten ihren Wohnungen zu.

In Gedanken verloren betrat Hermann seine kleine, bescheidene, mit alterschwachem Mobiliar ausgestattete Wohnung. Ihn übermannte infolge der mit Leo vorausgegangenen Gespräche Nachdenklichkeit und Schwermut. Er fühlte sich nicht wohl und sein Atem ging schwer. Stöhnend ließ er sich auf das in der Wohnstube stehende grüne Plüschsofa, das neben dem hohen Kachelofen stand, fallen. Die ganze Tragik der allgemeinen im Lande herrschenden und seine eigene gegenwärtige Situation kam ihm wieder deutlich zum Bewußtsein. Aber die Gedanken an die an diesem Abend verabredete Skatrunde mit seinen langjährigen treuen Freunden, den Bademeistern und Rettungsschwimmern Herbert Wagenberger und Ernst Schukies, erhellten dann doch ein wenig seine trübe Stimmung. Inzwischen war auch seine Frau von ihrer Arbeit heimgekehrt.

Plötzlich klopfte es an der Wohnungstür und Herbert Wagenberger trat ein. Mit ernster Miene und leiser Stimme begrüßte er die beiden. "Hast du nich' Ernst mitgebracht?", fragte Hermann erstaunt. Herbert sagte nichts. Er setzte sich auf einen Rohrstuhl in der Nähe des am Fenster der Wohnstube stehenden Vertikos. Dann sagte er mit gesenktem Blick: "Bleibt man ruhig! Ernst is nich mehr. Er is tot." Nun war das erdrückende, schreckliche Wort heraus.

Eine Weile blieb es still. Allen war scheinbar die Sprache verschlagen. Endlich raffte sich Hermann auf. Er strich sich einige Augenblicke schweigend über seine Knie, trat an das Fenster, sah starren Blickes auf die Straße hinaus und fragte dann mit dem Ausdruck des Entsetzens: "Ernst tot? Wie is denn das passiert?"

"Es war mal wieder e Badeunfall, wie meist in de Sommermonate. Mitten im Strom, kurz vor de Luisen-Brück' schrie plötzlich einer um Hilfe und versank inne Fluten. Das alarmierte Motorboot der Wasserschutzpolizei Tilsit war schnell da. Ernst tauchte vom Bug des langsam fahrenden Bootes immer und immer wieder, aber ohne Erfolg. De Strömung hatte den Ertrunkenen wahrscheinlich mitgenommen. Plötzlich is Ernst leblos an der einen Seite des Bootes hochgekommen. Man zog ihn sofort an Bord. Der anwesende Arzt konnte trotz Wiederbelebungsversuche nur noch den Tod von Ernst feststellen. Man sagt', es soll e Blutsturz gewesen sein. Er wurde zum Städtischen Krankenhaus gebracht. Da wird man ja feststellen, was es wirklich war. Aber müssen de Leute auch immer im Strom schwimmen? Das is' doch sehr gefährlich und auch polizeilich verboten. Jeder weiß das! Hoffentlich passiert eurem Paulchen und seinen Kameraden nich mal was, denn de Jungens schwimmen oft im Strom und stemmen sich noch auf de vorbeitreibenden Flöße rauf. Haben das ja oft gesehen und se gewarnt. Aber se hören ja nich. Wie soll jetzt das Leben von Ernst seiner Frau mit den beiden Kindern weitergehen? Mit de kleine Unfallrent' kommt Anneliese niemals nicht aus. Nach de Beerdigung von Ernst werd' ich sie mal aufsuchen. So, nu will ich all jehn, auf Wiedersehn!". In gedrückter Stimmung begleiteten sie Herbert schweigend zur Haustür.

Der Engelsberg am Memelstrom war mehr als nur eine Erhebung in den überwiegend flachen Stromgebieten. Eine beschauliche Landschaft der Ruhe und Stille, die im Laufe von Jahrhunderten von Ternern (Flößer) bewohnt war. Auf halber Höhe des Engelsberges befand sich ein kleinerer, offener, unbenutzter Holzschuppen, den sich einige Rentner als Treffpunkt hergerichtet hatten, um in den sommerlichen hellen und warmen Abendstunden miteinander zwanglos zu plachandern, andererseits auch die schönen Ausblicke über "ihren" Memelstrom zu genießen. "Is doch e Schand'", meinte Emil Rimkus, ein früherer Terner, "daß de Grenz' zu Litauen schon viele Jahre mitten im Strom is. Wenn man de weiten Wiesen und Felder bis zum Baubeler Wald sieht und daran denkt, daß unsere deutschen Brüder und Schwestern im Memelland vielfach in Unterdrückung, Not und Armut unter litauischer Herrschaft leben, dann wird einem janz traurig zu Mut. Se haben schon e schweres Schick-sal zu ertragen." - "Wie jeht's eigentlich Hermann Rogalsky. Den hab' ich lange nicht gesehen?", fragte Fritz Korbjuweit, ein früherer Straßenbahner der Kleinbahn Tilsit-Schmalleningken. "Gestern traf ich ihm im Park", antwortete Leo Walkmann. "Es war erst so um 10 Uhr morgens. Der hatte schon ganz schön einen sitzen. Früher hat Hermann nie getrunken. Was solch' traurige soziale Verhältnisse aus Menschen machen können. Is doch wahr! Zu unserem Treff hier wollt' er nich' kommen. Ich hab' ihm paar mal gut zugeredt." Alle Anwesenden waren sichtlich betroffen und bedauerten diese betrübliche Situation ihres Freundes ...

Jahre waren vergangen. Die Anzeichen eines Krieges mehrten sich, der dann 1939 ausbrach. Die Kriegsjahre brachten auch in Ostpreußen vielen Familien Leid, Verzweiflung und Trauer.

Hermann Rogalsky wurde im Laufe der Kriegsjahre zu Straßenarbeiten an der ostpreußisch-polnischen Grenze dienstverpflichtet. Erhielt seine Frau von ihm anfangs noch Lebenszeichen, so blieben diese nach einer gewissen Zeit gänzlich aus. Versuche, über den Verbleib ihres Mannes etwas zu erfahren, schlugen fehl.

Ein weiterer, schwerer Schick-salsschlag traf Anna Rogalsky. Ihr Sohn Paul verlor bei den schweren Rückzugskämpfen gegen die Rote Armee im Memelgebiet bei Pogegen, vor den Toren seiner Heimatstadt Tilsit, sein junges Leben. Diese furchtbare Nachricht brachte sie an den Rand der Verzweiflung.

Zum Ende des Kriegsjahres 1944 mußten ostpreußische Menschen in einer Zeit der Angst, Ungewißheit, Zerstörung, des Leidens und Todes von ihrer geliebten Heimat schmerzlichen Abschied nehmen, ein Abschied, der auch Anna Rogalsky nicht erspart blieb ...

Tilsit: Zellstoff-Fabrik am Strom Foto: Archiv