19.04.2024

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01.06.02 / Die Würze des Lebens

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. Juni 2002


Die Würze des Lebens
von Willi Wegner

Als ich auf dem Bahnsteig stand und auf meinen Anschlußzug wartete, kam es mir erst richtig zum Bewußtsein, daß ich nun ganze drei Tage nicht zu Hause sein würde. Ich hatte nebenberuflich die Vertretung für eine Suppenwürfel-Firma übernommen und wollte versuchsweise unseren Landkreis bereisen. Ein guter Schriftsteller kann, wenn er's richtig anpackt, unter Umständen als Suppenwürfel-Vertreter viel mehr verdienen als mit der Niederschrift von Liebes- und Kriminalgeschichten. Jedenfalls würde ich drei Tage nicht zu Hause sein, und das heißt ganz einfach: drei Tage ausspannen! Ob man nun vier Millionen oder nur drei Dutzend Suppenwürfel verkauft - oder gar keine.

Sehen Sie - Lis ist sechzehn, Birgit zwölf. Horst ist neun, Harald sieben, Friedo und Fanny sind fünf, Elli ist drei und Klein-Bubi bekommt seine ersten Zähnchen. Das sind alles unsere Kinder. Und mitten in diesem Familien-Tohuwabohu verbringe ich bleistiftkauend meine 24-Stunden-Tage und träume von einer lärmlosen Freiheit. Was mich außerdem ärgert, ist die Tatsache, daß meine Frau ein Stubenhockerle ist. Wie gern ginge ich abends einmal mit ihr ins Kino oder in ein nettes Weinlokal, aber da ist nichts zu machen. Immer hat sie die gleiche dumme Ausrede zur Hand: keine Zeit! Ich bitte Sie - eine Frau und keine Zeit! Wer soll das glauben!?

Na, nun wird das anders ... Die drei Tage als Suppenwürfel-Vertreter werden mich aufleben lassen. Auch was das Essen betrifft. Dreimal in der Woche Bohneneintopf ... stellen Sie sich das vor! Aus und vorbei, das können Sie mir glauben! Heute, morgen und übermorgen sollen die Beefsteaks des gesamten Landkreises hochleben! - Da kommt schon mein Anschlußzug!

Im Abteil mir gegenüber sitzt ein Herr Ende der Vierzig. Eine Weile taxieren wir einander. Ist er etwa auch ein Suppenwürfel-Vertreter, überlege ich. Als der Schaffner kommt und die Fahrkarten sehen will, fällt meinem Gegenüber eine Fotografie aus der Brieftasche. Mit dem Gesicht nach oben. Ein hübsches Gesicht! Ich bücke mich. Als Suppenwürfel-Vertreter muß man höflich sein. Ich sage: "Bitte, Sie haben etwas verloren."

"Oh, danke!" erwidert der andere. "Meine Frau." Er steckt die Fotografie wieder ein. "Aber Sie haben recht", sagt er etwas wehmütig, "ich habe sie wirklich verloren. Denn sie war einmal meine Frau, sie ist es nicht mehr. Sie hat mich verlassen."

"Es tut mir leid."

"Es muß ja nicht Ihnen leid tun", sagt der Mann auffallend böse gegen sich selbst. "Ich hab's ja nicht anders gewollt." Nach einer Weile: "Die, die sich einbilden, die Klügsten zu sein, werden oft die Dummen bleiben. Aber sei es, wie es will, es läßt sich nicht ändern. Und vielleicht ist es sogar gut so." Nach fünf Minuten, etwas aufgeräumter: "Ich hätte so gern Kinder gehabt, aber sie wollte keine. Sie war mehr fürs Ausgehen. Kino, Weinlokale und so, Sie verstehen?! Und meinen Sie, sie hätte ein einziges Mal mein Lieblingsgericht gekocht? Nicht die Spur! Bohneneintopf ... Kennen Sie Bohneneintopf? Schmeckt großartig, sage ich Ihnen! Das heißt, jetzt hab' ich's mir natürlich übergegessen. Na ja, Schwamm drüber!"

Als er auf der nächsten Station aussteigt, sagt er lächelnd: "Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Zählen Sie sich nie im Leben zu den Klügsten. Denn dann sind Sie leicht der Dumme. Ich wünsche einen guten Morgen!"

Am ersten Tag verkaufte ich drei Dutzend Suppenwürfel. Abends war ich wieder zu Hause. Bei meinen lärmenden Lieben. - Es ist schon besser, glaube ich, ich schreibe auch weiterhin Liebes- und Kriminalgeschichten. Denn was ist die Würze eines Suppenwürfels gegen die des Lebens?