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22.06.02 / Das Tuch der Großmutter

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Juni 2002


Das Tuch der Großmutter
von Eva Maria Sirowatka

Es ist nur ein schlichtes, dunk-les Wolltuch, das Tuch meiner Großmutter. Als einziges Stück von daheim blieb uns dieses Tuch bis heute erhalten und liegt wohlverwahrt in der Truhe.

Von Zeit zu Zeit nehme ich es aus seinem Gewahrsam heraus, breite es vor mir aus und streiche über seine weiche, glatte Fläche. Vor über fünfzig Jahren schenkte Großmutter dieses Tuch meiner Mutter einige Tage vor ihrer Hochzeit. An jenem Tag waren beide damit beschäftigt, in dem großen Nordzimmer des elterlichen Hauses die Koffer und Kisten zu verschließen, die die Aussteuerwäsche meiner Mutter enthielten. Es war zum größten Teil selbstgewebtes, gebleichtes Leinen, das meine Mutter erhielt. Aus der untersten Schublade der Mahagonikommode holte die Großmutter ganz unerwartet das große, dunkle Tuch hervor.

"Nimm es, Kind", sagte sie zu meiner Mutter. "Es ist ein gutes und warmes Tuch, reine Wolle, ganz leicht. Es wird dir auf den langen Fahrten zur Bahnstation oder zur Stadt auf dem Fuhrwerk gute Dienste leisten."

Meine Mutter wollte abwehren. "Nein, Mutter, das kann ich nicht annehmen. Du hast dir das Tuch erst vor kurzem gekauft." Die Großmutter meinte lächelnd, sie hätte sich nun schon so sehr an ihr altes Tuch gewöhnt. Es täte auch weiterhin seine Dienste.

Heute noch, nach so vielen Jahren, glaubte ich in diesem alten Tuch einen Hauch jenes Duftes wahrzunehmen, wie er in dem Nordzimmer meiner Großeltern über allem lag - ein Duft von Lavendel und Myrte. Wie viel unvergeßliche Erinnerungen leben mit diesem Duft, der in dem Tuch steckt, in mir auf! Ich sehe es deutlich vor mir, das große Nordzimmer im großelterlichen Haus, das nur bei besonderen Anlässen und an den Feiertagen benutzt wurde. Selbst während der heißesten Sommertage war es hier angenehm kühl. Vier große Fenster öffneten den Blick in den Garten mit den hohen, alten Bäumen. Die Dielen des Nordzimmers waren weiß gescheuert. Ich sehe meine beiden Tanten Agnes und Maria, wie sie, die Röcke hochgeschürzt, in der Frühe des Sonnabends diese Dielen scheuerten. Die Fenster waren weit geöffnet; die luftigen Gardinen blähten sich im Sommerwind. Waren die Dielen wieder trocken, wurden selbstgewebte, farbenfrohe Flickerteppiche über sie gebreitet.

Zur Zeit der Rosenblüte stand auf der geschwungenen Mahagonikommode ein Strauß dunkelroter Rosen in einer weißen Porzellanvase. Auf den Fensterbrettern wuchsen in tönernen Blumentöpfen sechs Myrtenbäumchen. Mit behutsamer Hand pflegte die Großmutter für jede ihrer Töchter eine Myrte, die für den Brautkranz bestimmt war.

An alles dachte die Großmutter in planvoller, kluger Voraussicht. Sie sorgte nicht nur für die eigenen Kinder, sondern darüber hinaus auch für die zahlreichen Enkelkinder. Ich hatte ein Scheu vor dieser gütigen, unvergleichlichen Frau. Obwohl ich sie verehrte und liebte, wagte ich es nicht, es ihr zu zeigen. Wir kamen nicht oft zusammen, da wir weit auseinander wohnten. Doch sind mir die Tage, die ich im Hause der Großeltern verleben durfte, unvergeßlich geblieben.

Wie dies alles lebendig wird, wenn ich das Tuch der Großmutter sehe! Ist es wirklich schon so lange her, da ich als Kind zwischen Mutter und Kutscher auf dem Fuhrwerk saß, das uns nach Ganglau bringen sollte?

Wir fuhren in den frühesten Morgenstunden von zu Hause fort. Oft war es noch dunkel, oder der Morgen graute. Die Fahrt zur Bahnstation durch die stillen Wälder dauerte lange. Fuhren wir am Ustrichsee vorbei, lag der Morgennebel noch über dem Wasser. Fürsorglich hatte meine Mutter Großmutters warmes Tuch um mich geschlagen; sein Duft umhüllte mich.

Nun liegt Großmuter schon viele Jahre begraben. Manchmal glaubte ich in den Zügen meiner jüngsten Tochter etwas von ihr wiederzufinden. Auch sie hat, so klein sie noch ist, die sorgende, liebevolle Art, das mitfühlende Herz für ihre Umgebung. Waren nicht auch Großmutters Augen von jenem klaren Hellbraun wie die Augen ihrer Urenkelin? Das Leben strömt weiter durch Generationen.

Zuletzt begleitete uns das Tuch der Großmutter, als wir die Heimat verlassen mußten. Auf der bitteren Fahrt schützte es meine älteste Tochter, die damals noch kein Jahr alt war. Wir haben das Tuch sorgsam aufgehoben. Wir hüten es wie einen kostba-ren Schatz. Und das ist es uns auch.