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29.06.02 / Zweierlei Grün in Quark

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. Juni 2002


Zweierlei Grün in Quark
Esther Knorr-Anders über ihren Versuch, besonders gesund zu leben

An jenem Tag ging ich appetitlos, durstig und unlustig durch die Innenstadt. In Endlosschlangen krochen die Autos über den Asphalt. Die zur Verfügung bleibende Luft konnte unmöglich für die Gattung Mensch bestimmt sein. In einer Seitenstraße war es, daß mein Blick auf den Aushang einer Gaststätte fiel: "Vitale Kraft und Lebensfreude - Are Waerland Frischkost". Are Waerland. Es mußte sich um den in Finnland geborenen Ernährungsforscher handeln, der die "laktovegetabile Kost" systematisierte und sie bis zu einer Fastenkur von 40 Tagen entwickelte, während der allein Absude aus Gemüse und basische Rohsäfte getrunken werden sollen. Selbstverständlich kann die Kur jederzeit abgebrochen werden, doch es heißt von ihr, daß der Entschlackungswillige "nach dem dritten Tag ein immer mehr zunehmendes Gefühl von körperlicher Leichtigkeit, gesteigerter Gedankenklarheit und gesteigertem Wohlbefinden verspürt". (Are Waerland: "In einer Nußschale") ...

Ich schlängelte mich zwischen den Autos zur anderen Straßenseite und faßte währenddessen den Entschluß, das laktovegetabile Experiment durchzuführen. Daß ich es nicht schaffte, ist eine andere Sache. Jetzt jedoch lief ich beschwingt zur Gaststätte hinein. Sie war gut besucht, überwiegend saßen die Gäste einzeln am Tisch. Es freute mich. Ich wählte einen Tisch am Fenster und fühlte mich alsbald beobachtet. Das traf auch zu, denn in diesem Kreis war ich neu. Als ich mich gesetzt hatte, aßen sie weiter. Sie aßen in erstaunlicher Weise, mit gesammeltem Gesichtausdruck und gesammelter Haltung. Sie ließen sich Zeit. Keine Hast, keine Eile war ihnen eigen. Ihr Zeitgefühl übertrug sich auf mich. Ich sah mir die Speisekarte an. Zu den verschiedenen Frischkostplatten gehörten verschiedene Gemüse. Zum Beispiel Nesseln, Wegerich, Löwenzahn, roher Blumenkohl und roher, durch den Wolf getriebener Grünkohl. Samt und sonders mit Kräutersoße, Leinsamenöl und gekochten Pellkartoffeln angerichtet.

Zunächst zündete ich mir eine Zigarette an. Der Herr am Nebentisch blickte herüber. Die Kellnerin kam, ein junges Mädchen, mohrrübenschlank. Sie neigte sich zu mir. "Wir sind alle Nichtraucher", sage sie leise, und: "Außerdem benutzen Sie das Obstkernschälchen als Aschenbecher." "Oh", murmelte ich und drückte die Zigarette aus. Hinter mir öffnete ein Gast ein Fenster. "Was möchten Sie denn trinken?" fragte das Mädchen gleichbleibend liebenswürdig. "Ein kleines Pils", bestellte ich. Der Herr am Nebentisch behielt den Löffel in der Schwebe. "Wir sind alle Antialkoholiker", flüsterte das Mädchen, "versuchen Sie doch Rote-Bete-Saft oder Ginsengtee mit Honig." Ich entschied mich für Ginseng. "Soll ich Ihnen, weil Sie neu bei uns sind, die Platte zusammenstellen?" Freudig bejahte ich. Wenige Minuten später standen der mit Rohgemüse überhäufte Teller und ein kleinerer mit einer Pellkartoffel vor mir, dazu ein Glas Sauermilch. Den Tee stellte das Mädchen zur Seite. "Die Milch ist nicht als Getränk anzusehen, sondern als Essen. Während des Essens trinken wir nicht." Sie wünschte mir einen guten Appetit.

Ich begann mit der Pellkartoffel, die mit Schale gegessen wird, probierte ein Salatblatt in Kräutersoße mit Leinsamenöl und kaute zweierlei Grünes in Quark. Das mußten Nesseln und Löwenzahn sein. Laktovegetabile Kost: Milch und Rohgemüse. Es schmeckte. Nur schmeckte es alles gleich. Das aber lag, wie ich später erfuhr, an der Verkommenheit der Geschmacksnerven eier- und fleischfressender, kaffee- und alkoholtrinkender sowie tabak-rauchender Menschen. Nach ein paar weiteren Bissen merkte ich, daß ich Mühe hatte, zu schlucken. Ob ich etwas falsch machte? Vielleicht aß ich zu schnell?

Der Herr vom Nebentisch kam zu mir. "Ich kann das nicht mitansehen. Sie machen einen Fehler nach dem anderen. Sie sind Anfängerin, keine ‚Eingeweihte'. Darf ich Platz nehmen?" Mit einer Pellkartoffelschale im Mund konnte ich weder ja noch nein sagen. Er setzte sich. "Um Himmels willen, nehmen Sie die Sauermilch zum Schlucken. Und essen Sie langsam. "L-a-n-g-s-a-m! Sie bekommen sonst fürchterliche Magenschmerzen." Beinahe fiel mir die Gabel aus der Hand. "Eigentlich esse ich Frischkost, um vitaltüchtig zu werden", erklärte ich. "Das wollen wir alle. Aber man muß ‚eingeweiht' sein. Zur Hauptmahlzeit benötigen wir eine Stunde. Man kann sie nicht hinunterschlingen, wie gewöhnliche Fleischesser dies zu tun pflegen. Jeder Bissen muß sorgfältig eingespeichelt werden. Die Speicheldrüsen können ohne weiteres einen halben Liter Flüssigkeit während des Kauens erzeugen. Dieses Naturprodukt brauchen Sie." Draußen raste ein Rettungswagen der Arbeiter-Samariter vorbei. "Wenn Sie es erst können, werden Sie Frischkost als einzige Wonne erkennen. Die hellgrünen Triebe von Tannen kommen hinzu. Der Feinschmecker ißt junge Birkenblätter ..." Er schwieg. Zum Abschluß trank ich den Honigginseng. Säure und Süße. Ich vermochte sie nicht zu unterscheiden. Die Geschmacksnerven der Anfängerin streikten. "Wir freuen uns, wenn Sie wiederkommen", sagte das Mädchen, als ich zahlte.

Are Waerland verkündet: "Das ist der große Sündenfall (Fleisch, Eier, Fisch, Nikotin, Alkohol), der den Menschen aus dem Paradies der Gesundheit, der Lebensfreude und Lebensharmonie vertrieben und ihm statt dessen eine Hölle an Krankheiten geschaffen hat." Doch der "laktovegetabilisch lebende Rohköstler spürt davon am wenigsten", denn sobald "die großen Geschmacks-empfindungen (Salz, Pfeffer, Senf, Essig usw.) fortfallen, tritt der überwältigende Reichtum der feineren Nuancen der Pflanzenwelt in den Vordergrund." Am dritten Tag konnte ich Roggen von Gerste, rohen Blumenkohl von rohem Spargel, Sauermilch von Joghurt unterscheiden. Auch das Frühstücksgetränk, ein Gemisch aus Kartoffelwasser, Karotten, Sellerie und Weizenkleie bereitete mir keine Schwierigkeiten. Zwar ging ich während der ganzen Prozedur nicht soweit, die Zigaretten zu verschenken und zwischen einem Viertel Wein und mir auf unüberwindbare Entfernung zu achten. Nein, soweit kam es nicht. Aber es stimmte, daß ich mich entstofflicht fühlte, leicht bis zum Umfallen.

Im Laufe des siebten Tages begann ich mich ungut zu fühlen. Selbst für andere sichtbar zitterte ich. Wollte ich etwas anfassen oder heben, verkrampften sich die Hände. Da stimmte etwas nicht. Als ich das Treppengeländer zu Hilfe nehmen mußte, um die Stufen hinaufzusteigen, hielt ich die Zeit für gekommen, das Experiment abzubrechen. Vor dem Flurfenster stand ein Kübel mit viel Grün. Ich sah das Pflanzenwesen lange an. Dabei nahm der Gedanke überhand, daß mir eine Bratwurst außerordentlich guttun würde.