19.04.2024

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06.07.02 / In der Kacksche Balis

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 06. Juli 2002


In der Kacksche Balis
von Hildegard Rauschenbach

Wir wohnten in einer Ecke Ostpreußens, in denen es phantasievolle, litauisch klingende Namen gab. Nicht nur die Familiennamen - Endungen mit -ies, -eit, -at, -us -, auch die Ortsnamen stammten vielfach aus dem litauischen Sprachschatz. Unser Dorf hieß Dickschen, die Post war in Ußballen, unsere Kreisstadt war Pillkallen. Ein Nachbardorf von uns hieß Kackschen, nach ihm war das nahe gelegene Hochmoor benannt, die "Kacksche Balis". Es war ein Gebiet von ca. 15 qkm, und heute bedauere ich es, daß ich nie den Mut hatte, es einmal ganz zu durchstreifen. Vielleicht war es die Angst vor Schlangen, die es dort gab, die mich davon abgehalten hat - oder war es die geheimnisvolle Moorhexe "Rana", die der Sage nach tief unten im Moor schlafen sollte, die mich zaudern ließ? Es war rätselhaft und schon ein wenig unheimlich, wenn sich an einer Stelle das Moor allmählich hob und eine Wölbung entstand. "Die Rana hat wieder tief Luft geholt", sagte man dann.

Im Frühjahr entfaltete das Moor seine ganze Pacht: Da blühte der Ginster, und das Wollgras wiegte auf schlanken Halmen seine weißen Wuschelköpfe im Wind. Dazwischen standen Birken in zartem Grün, die Luft war geschwängert vom herben Porstgeruch, und dort, wo der Torf schon gestochen war, wuchsen die dicken, braunen Rohrkolben im Wasser.

Im Juni, vor der Heuernte, wurde der Torf, der etwa zwei Meter aus dem moorig-braunen Wasser ragte, gestochen. Einige Wochen vorher hatte jeder Bauer in der Umgebung bei der Forstverwaltung auf einer Auktion sein Stück - meist war es eine Rute - erstanden, und es wurde für ihn nach einem aufgestellten Plan abgesteckt.

Um nun den Torf ausstechen zu können, wurden im Wasser, das bis an die Torfwände reichte, lange Pfähle getrieben und darauf ein Gerüst errichtet. Die Männer stachen nun mit einem scharfen Spaten fein säuberlich ziegelähnliche Torfstücke aus, und alle anderen verfügbaren Kräfte, Frauen und Kinder, luden die Stücke auf Schubkarren, um sie dann auf ausgelegten Brettern ein Stück weiter auf das trockene Hochmoor zu karren. Hier wurden sie zu kleinen pyramidenförmigen Torfhäubchen geschichtet. So konnte der Torf gut trocknen, er lieferte uns für den Winter billiges Brennmaterial.

War die Rute gänzlich ausgestochen - es wurden, je nach verfügbaren Arbeitskräften bis zu anderthalb Tage dazu benötigt - begann für uns Kinder ein herrlicher Spaß: Wir durften Torf kneten! Und zwar war dort, wo der Torf runtergestochen war, ein Damm stehengeblieben, der das Wasser abhielt; dadurch war eine Mulde entstanden, in die alle Torfreste geworfen wurden. Der Damm wurde nun ein wenig geöffnet und Wasser hineingelassen, um die Torfreste zu Brei zu mischen. Hei - wie wir da alle in der Pampe umherpatschten: Männer mit hochgekrempelten Hosenbeinen, Frauen mit geschürzten Röcken und wir Kinder, die wir sowieso meistens Turnzeug anhatten. Manch einer rutschte aus und nahm unfreiwillig ein Moorbad (unschwer zu erraten, daß auch manchmal nachgeholfen wurde).

Der Torfbrei wurde mit Schaufeln nach oben geworfen, in Karren geschaufelt und in eine Form gefüllt. Die Form hob man zu zweit an, und die ziegelähnlichen Torfstücke lagen dann aneinandergereiht auf dem von Erika- und Porstgestrüpp befreiten Boden. Sie waren härter und schwerer als der gestochene Torf und hielten länger die Glut im Herd oder Ofen.

Ich kann mich nicht erinnern, daß wir jemals während des Torfstechens schlechtes Wetter hatten. Immer brannte die Sonne, die Luft über dem Moor flimmerte vor Hitze, es wurden Unmengen vom selbstgebrauten Malzbier und Säfte getrunken. Natürlich gab es zwischendurch Klein-Mittag aus dem Freßkorb, in dem Mutter große Stullen vom selbstgebackenen Brot, belegt mit Schinken, Rauchwurst und Wurst aus dem Weckglas eingepackt hatte. Mittag wurde meistens von Mutter mit dem Pferdewagen gebracht. Ein deftiger Eintopf stillte unseren Hunger, hinterher fehlte nie der Pudding. Die Mittagspause wurde stets dazu benutzt, sich mit benachbarten "Torfmachern" zu unterhalten, die Männer schmauchten dabei ihr geliebtes Pfeifchen, es wurde auch viel gelacht, mit Torf geworfen, und manchmal fiel auch einer ganz "zufällig" mal ins Wasser.

Ich werde nie das Bild vergessen, das sich in jedem Jahr aufs neue bot: So weit man sehen konnte, sah man Frauen mit ihren bunten Kopftüchern, Männer mit nackten Oberkörpern (die sich am Nachmittag verdächtig rot färbten), die aufgestellten Torfhocken zwischen kleinen Birken und Kaddick, und darüber der hochgewölbte, tiefblaue Himmel mit der brennenden Sonne ...

1990 sah ich meine Kacksche Balis wieder: nackt und kahl bis zum Horizont, die zwei Meter hohe Torfschicht, in Millionen von Jahren gewachsen, radikal abgefräst von Monstermaschinen, bedient von Menschenhand. Ich habe geweint wie ein kleines Kind.

 

Im Kreis Schloßberg (Pillkallen) heute: Hildegard Rauschenbach 1990 auf dem einstigen Hochmoor, der "Kacksche Balis" Foto: privat