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24.08.02 / Mutter macht's

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 24. August 2002


Mutter macht's
von Margot Gehrmann

Der Zug fuhr oder auch nicht, was eigentlich egal war, denn sehen konnte man nichts, außer, daß rings umher nur Schnee lag, soweit das Auge reichte. Kein Haus war zu sehen, auch kein Bahnhof - nichts. Und daß Züge manchmal keine Einfahrt hatten, das wußte sie, aber dieser Zug schien gar keinen Bahnhof finden zu wollen.

Als er wieder dann einmal stand und man in gar nicht so weiter Ferne ein Haus sehen konnte, beschloß die Mutter auszusteigen, um nach etwas Trinkbarem für die Kinder zu fragen. Margot fing an zu weinen, und die beiden Brüder stimmten mit ein. Sie wollten mitgehen, die Mutter aber versprach, ganz schnell wiederzukommen, und etwas Schönes zum Trinken würde sie auch mitbringen. Viel Trost war es nicht, aber die Kinder fügten sich, winkten hinterher, rückten noch näher zusammen und warteten voller Angst, daß die Mutter wiederkommen möge, bevor der Zug weiterfuhr.

Plötzlich ruckte der Zug an und fuhr los. Die Kinder begannen fürchterlich zu schreien, eine Frau versuchte sie zu trösten, andere schimpften über den Lärm. Die Mutter war weg - es half nicht, daß sie aus dem Fenster sahen, klopften, schrien, riefen. Tränen und Nase liefen, niemand putzte sie. Und dann plötzlich wurden alle drei von hinten umarmt. "Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, daß ich euch allein lasse." Eine vertraute Stimme, Muttis Stimme! Die Freude auf beiden Seiten war unbeschreiblich.

"Ich war noch ein Stück vom Zug entfernt, als er losfuhr. Ich bin einfach losgelaufen und auf den letzten Wagen aufgesprungen, was gar nicht schlimm war." Und jetzt war die Mutter wieder da und zauberte sogar ein Glas eingeweckter Kirschen aus ihrer großen Manteltasche. Die Kirschen wurden der Reihe nach auf die offenen Münder verteilt, der Saft "für schlechte Zeiten" zurückgestellt, weil man ihn auch mit frischem Schnee gut strecken konnte, denn soviel stand fest: der Zug würde wieder und wieder halten, wo, wußte man nicht, aber irgendwo wird schon frischer Schnee liegen.

Als sie dann doch auf einem Bahnhof ankamen, war es eher eine Überraschung. Auf dem Bahnsteig standen Menschenmassen, drängten, schubsten, schrien und wollten alle noch einsteigen, obwohl eigentlich gar kein Platz mehr war. Nicht alle rückten zusammen, viele schimpften über "Dreistheit, Frechheit dieser Menschen, die sich hier auch noch breit machen wollten". Aber dann ging es doch irgendwie, und fünf Kinder mit ihrer Mutter fanden noch ausreichend Platz. Schnell kam man ins Gespräch, machte sich bekannt, bestaunte Baby-Zwillinge und war ganz schnell gut miteinander befreundet. Die Mütter erzählten über ihre Kinder und ihre Männer, die im Krieg geblieben waren. Irgendwie teilte man sich das Essen, selbst der Kirschsaft - mit etwas mehr Schnee gestreckt - reichte für zehn Menschen.

Weiter ging die Fahrt und wieder blieb der Zug auf freiem Feld stehen. "Gotenhafen" war ein Wort, das auf einmal durch den Zug geisterte, jeder Erwachsene sprach es scheinbar voller Erwartung aus. Was es eigentlich war, wußten die Kinder nicht und die Erwachsenen wohl auch nicht so recht, aber es sollte alles anders, besser werden.

Endlich angekommen, ergoß sich eine Menschenmasse unglaublichen Ausmaßes ausschließlich in eine Richtung. Die Mutter hatte plötzlich gar keine Hand mehr frei, auch nicht für die beiden kleinen Brüder, denn sie wollte jetzt eines der Babies tragen. Also faßte Margot die Hände ihrer Brüder und hielt sich immer in der Nähe der Mutter, was leider nicht einfach war mit einem störrischen kleinen Bruder inmitten vieler stoßender, drängender, ängstlicher Menschen.

Plötzlich kam die Menschenmasse zum Stehen, blieb aber in bedrohlicher Bewegung, weil alle auf ein unbeschreiblich großes Schiff wollten. Viele Menschen versuchten, noch viel mehr Menschen aufzuhalten, weil "nichts mehr ging". Die Mutter versuchte, die Kinder beieinander zu behalten und gleichzeitig nicht die neuen Freunde zu verlieren, denn schließlich hatte sie deren Baby auf dem Arm. Schmerzliches, ob nun Ellbogen, Rucksack oder sonst etwas traf Margot immer wieder, die anderen sicher auch, aber das sollte nicht ihre Sorge sein. Sie wollte ihre Mutter, vor allem ihre Mutter im Auge behalten, denn die wird schon alles andere richten, darauf konnte sie sich verlassen.

Wie es dann kam, daß sie alle nicht mehr mittendrin, sondern eher am Rand der Menschenmassen waren, konnte sie nicht sagen, aber alle waren beieinander, und das zählte. "Wir haben gar keine Chance, auf die ,Gustloff' zu kommen, wir müssen etwas anderes versuchen", sagte die Mutter. Und sie versuchte. Alle Kinder wurden in einen wärmenden Hauseingang gebracht und sollten dort unter Obhut der neuen Mutter-Freundin warten. "Aber nicht weggehen, ich hole euch hier wieder ab, wenn ich eine Unterkunft über die Nacht gefunden habe", sagte die Mutter und ließ den Kindern keine Zeit für lange Abschiedsszenen. Diese warteten also geduldig, aneinander gedrückt, im schmalen Hauseingang und hofften, daß sie niemand wegjagen würde, denn dann müßten sie ungeschützt vor Schnee und schneidendem Wind ganz in der Nähe warten.

Plötzlich öffnete sich hinter ihnen die Tür, viel Wärme traf sie gänzlich unvorbereitet, und eine nette, gut riechende Dame bat sie herein, weil sie "einen schönen, warmen Kakao für die lieben Kinderchen gekocht hatte". Der Kakao war einfach köstlich, und es war doch ein großes Glück, daß sie keinen Platz auf dem Schiff bekommen hatten, denn Kakao hätte es dort nicht gegeben für so unendlich viele Menschen. Wer sollte soviel kochen und wer hatte so große Töpfe. Nein, es war schon besser so.

Die Zeit verging, die Mutter kam nicht zurück. Die kleinen Brüder weinten, und Margot stimmte schließlich mit ein. Jetzt war ihre Mutter weg, und ein zweites Mal werden sie das Glück nicht haben, sie wiederzufinden. Die nette Dame versprach zu helfen und hatte in kürzester Zeit ein Lager ausfindig gemacht, "nichts Besonderes, aber doch erst einmal ein Dach über dem Kopf". Also zogen sie los, eine "fremde" Mutter mit insgesamt acht Kindern. Das Lager war eine ehemalige Schule, Etagenbetten, etwas noch nie Gesehenes, waren dicht an dicht aufgestellt, und Margot sollte die fünf zugewiesenen Betten "besetzen, auf das Gepäck aufpassen und warten, bis alle zurückkommen".

Alle, das bedeutete wirklich alle, denn Margot war allein, ganz allein ohne Mutter, ohne Brüder, ohne neue Freunde, nur mit dem Gepäck aller zu ihren Füßen. Die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht. Sie weinte jämmerlich, ohne aufzuhören, bis sie völlig erschöpft einschlief.

Geweckt wurde sie von freundlichem Geschrei und tröstlichen Worten: Die Mutter beugte sich über sie und streichelte ihr Gesicht. Alle waren wieder da, hatten sogar noch ein Glas Kunsthonig mitgebracht, aus dem Margot einen ganzen Löffel voll und ganz ohne Brot essen durfte.

Eine wunderschöne Wohnung habe sie gefunden, erzählte die Mutter. Fabelhaft eingerichtet, mit kaum zu beschreibenden schönen Betten und einem Keller voller Kohlen. Frieren müßten sie jetzt nicht mehr und könnten so lange dort bleiben, bis es wieder nach Johannisburg zurück ging. Und sofort würden sie aufbrechen.

"Aber wie siehst du denn aus, Kind", sagte die Mutter, und beobachtete Margot interessiert dabei, wie diese sich kratzte, kratzte und nicht aufhören wollte. Die beiden Kleider, die sie übereinander trug und schon einige Zeit nicht mehr ausgezogen hatte, wurden schnell entfernt, das Hemd hochgeschoben und "die schöne Bescherung" wurde von allen etwas angewidert bestaunt: Margot war über und über von Läusen zerstochen, und als die Mutter die Strohauflage hochhob, war ein reges Treiben unzähliger Läuse zu beobachten.

Hier wollte man keine Minute länger bleiben, erzählen, was vorgefallen war, konnte man unterwegs, denn Margot müßte schnellstens in die Badewanne, ja wirklich Badewanne, auch mit warmem Wasser, der Ofen wäre schneller als schnell geheizt.

Die Wohnung war ein Traum, die weichen Betten nicht zu beschreiben, und die Badewanne einfach nur schön und mollig, selbst Spielzeug für alle Kinder gab es. Pfleglich sollten die Kinder damit umgehen und die Wohnung immer im aufgeräumten Zustand belassen, denn die Besitzer würden eines Tages wiederkommen und sich freuen, wenn alles so war, wie sie es verlassen hatten, eben so, wie sie selbst ihr Haus in Johannisburg verlassen hatten und wieder vorzufinden hofften.

Nur einen Fehler hatte die Wohnung: Es gab nichts zu essen, nicht einmal Eingewecktes im Keller, was doch schließlich in jedem Haus zu finden sein sollte. Aber dann fand sich doch noch ein Rest Mondamin, Eipulver, ein bißchen Fett und Zucker - daraus gab es selbstgebackene Kekse von köstlichem Duft. Und morgen würde man weitersehen, vielleicht gab es Gulaschkanonen für die Flüchtlinge oder eben ähnliches, und wenn nicht, müßte man die Gegend "abgrasen".

So unglaublich es schien - es war wahr. Keine Bombe fiel, kein Alarm weckte sie aus dem Schlaf, riß sie aus dem warmen Bett, alles war friedlich, und es gab sogar jeden Tag Brot, das manchmal ziemlich alt und hart war, aber es war Brot. Mit der Straßenbahn, einem völlig unbekannten Fahrzeug, konnte man in eine riesige Stadt, nach Danzig, fahren. Und die Überraschung für Margot war, daß sie eines Tages mit der Mutter nach Danzig fahren durfte, es sollte dort Senf geben, und tatsächlich bekamen sie auch ein großes Glas voll. Zurück in Gotenhafen, wurden die harten Brotscheiben auf dem Herd geröstet und mit Senf bestrichen - ein unvergeßlicher Genuß.

Eines Tages war dann das schöne Leben zu Ende. Fliegeralarm, Stalinorgel, Tannenbäume waren die täglichen Schlagworte. Aus dem fünften Stock in den Luftschutzkeller des gegenüberliegenden Hauses schaffte man es schnell in Rekordzeit, und abends ging man "in voller Montur" einschließlich Mantel ins Bett, um noch schneller in einen unheimlichen, niedrigen Keller voller Menschen zu kommen. Als alle zehn eines Tages aus dem Luftschutzkeller zurückkamen, froh, alles gesund und munter überstanden zu haben, wartete eine Katastrophe auf sie: Das schöne Schlafzimmer, das Margot mit Mutter und Brüdern bewohnte, war nur noch ein großes tiefes Loch, eine Bombe hatte das Dach und alle darunter liegenden Räume sauber durchschlagen. Nichts war mehr da, außer einem vollen Kleiderschrank an einer Wand, der sich aber schon bedrohlich nach vorn neigte. Als dann am nächsten Tag in unmittelbarer Nähe ein Flugzeug abgeschossen wurde und ein einzelner Mensch wie ein Stein vom Himmel fiel, wußten alle, daß es wieder weitergehen müßte, weiter weg von Johannisburg. Ein Soldat, der Andreas hieß, nahm alle zehn mit nicht sehr vollem Rucksack und ziemlich sauberer Kleidung, die bei Margot schon ein bißchen eng war und zwickte, auf seinem Panzerspähwagen mit in eine ungewisse Zukunft.

Ostpreußen heute: Partie an der Galinde in Johannisburg; früher stand dort die Mühle Schlonsack

Foto: Gehrmann