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31.08.02 / Gastbeitrag: "Gesichertes Wissen" auf dem Prüfstand

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 31. August 2002


Gastbeitrag: "Gesichertes Wissen" auf dem Prüfstand
Elisabeth Noelle-Neumann über den Wert der Demoskopie - gerade auch zu Wahlkampfzeiten

Theorien darüber, wie sich die Menschen in der Gesellschaft verhalten, sind oft klug, folgerichtig, sie passen in die Zeit, man spürt geradezu ihre Wahrhaftigkeit. Jeder ist überzeugt, daß sie richtig sein müssen. Und dann kommt ein einziges Umfrageergebnis und beweist das Gegenteil. Paul Valéry hat einmal gesagt: Wenn wir überrascht sind, stehen wir der Wirklichkeit gegenüber. So kann man mit Hilfe der Demoskopie genügend falsche Annahmen korrigieren, um ein ganzes Museum der Irrtü- mer auszustatten. "Ausstellungsstücke" sind verbreitete Annahmen, die zwar falsch sind, aber als gesichertes Wissen gelten, einfach weil sie so einleuchtend sind.

Dazu gehört die These, in der Großstadt vereinsame der Mensch, oder aber die These, Arbeitslosigkeit bedeute für die Betroffenen eine Chance, ihr Leben unabhängig nach den eigenen Wünschen zu gestalten. "Arbeitslos - das große Los" überschrieb einmal der Münchner Soziologe Ulrich Beck einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem er diese These vertrat. Tatsächlich kann man mit der Demoskopie aber zeigen, daß schon nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit die Kräfte der Betroffenen verfallen. Sie verlieren Mut, Selbstbewußtsein, Energie. Von einer aktiven, den eigenen Wünschen entsprechenden Lebensgestaltung kann dann bei den allermeisten keine Rede mehr sein.

Besonders viele Irrtümer über das Verhalten der Bevölkerung gibt es auf dem Gebiet der Politik. So hält sich seit vielen Jahren in der öffentlichen Diskussion die These, im Wahlkampf steige die Politikverdrossenheit, die teuren Werbekampagnen der Parteien und der öffentlich ausgetragene Streit förderten den Mißmut der Bevölkerung. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Die Unzufriedenheit mit der Politik und den Politikern erreicht regelmäßig in der Mitte der Legislaturperiode ihren Höhepunkt, um dann im Wahljahr geradezu zusammenzubrechen.

Je einleuchtender eine These erscheint, desto größer ist die Gefahr, daß sie allgemein akzeptiert wird, ohne daß jemand auf die Idee kommt, sie zu überprüfen. So argumentieren auch angesehene Politikwissenschaftler, die sozialen Milieus in Deutschland - etwa das klassische Arbeitermilieu oder der rheinische Katholizismus - hätten sich in den letzten drei Jahrzehnten weitgehend aufgelöst, und mit ihnen die aus der Herkunft bedingten Parteibindungen der Menschen. Folglich gebe es immer mehr Wechselwähler. Ob diese Vermutung tatsächlich zutrifft, kann man mit sogenannten Panel-Befragungen prüfen. Dabei werden dieselben Personen in regelmäßigen Abständen wiederholt befragt. So kann man nachprüfen, wie viele Befragte von einer Wahl zur nächsten ihre Parteiorientierung gewechselt haben. Das Ergebnis: Seit 30 Jahren ist die Zahl der Wechselwähler stabil geblieben.

Das jüngste Beispiel dafür, wie die Demoskopie dazu beitragen kann, allzu überzeugende Thesen zu prüfen und zu widerlegen, ist eine Aussage des amerikanischen Wahlkampfmanagers Dick Morris, der die Wahlkämpfe von Bill Clinton 1992 und 1996 betreute. Weder Schröder noch Stoiber, so Morris, hätten verstanden, worin der Kernpunkt aller Politik in diesem Jahrzehnt liege. Den Wählern sei klar, daß die globalisierte Wirtschaft nicht von Politikern, sondern von Banken, Managern und unkontrolierten Märk- ten bestimmt werde. Schröder und Stoiber sollten daher die Themen Umwelt, Bildung, Gesundheit, Renten, Kriminalität und Einwanderung in den Vordergrund rücken, die sie auch wirklich beeinflussen könnten.

Stimmt das? Seit Jahrzehnten gibt es kaum einen stärkeren Hinweis auf den Ausgang einer Wahl als den Wirtschaftsoptimismus der Bevölkerung. Clinton (und damit Morris selbst) hat im Präsidentschaftswahlkampf 1992 davon profitiert: Die Popularität von Präsident Bush verfiel, als sich bei der Bevölkerung die Überzeugung durchsetzte, mit der amerikanischen Wirtschaft gehe es bergab. Dabei war es nicht wichtig, ob sich die Lage wirklich verschlechterte - tatsächlich lag das Wirtschaftswachstum am Jahresende bei 4 Prozent. Entscheidend war, daß die Bevölkerung glaubte, die Wirtschaft sei in einer Krise, weil im Fernsehen entgegen der Wirklichkeit zu 80 Prozent berichtet wurde, es gehe bergab.

In Deutschland gewann 1994 die CDU/CSU die Wahl, weil im Frühjahr ein Wirtschaftsaufschwung eingesetzt hatte, der die Bevölkerung aus ihrer bis dahin depressiven Stimmung riß. Und 1998 siegte Schröder nicht zuletzt deswegen, weil die Bevölkerung der SPD eher als der CDU/CSU zutraute, die Arbeitslosigkeit zu verringern. Sollte Morris also recht haben mit seiner These, die Bevölkerung glaube, daß die Regierung keinen Einfluß auf die Wirtschaft habe, wäre das eine Umkehrung der bisher gültigen Gesetze, eine Sensation. Doch es spricht nichts dafür, daß dies tatsächlich der Fall ist. Nach wie vor erwartet die Bevölkerung zumindest in Deutschland von der Regierung, daß sie die wirtschaftlichen Probleme des Landes löst. Die Frage "Glauben Sie, daß man mit den richtigen Maßnahmen die Arbeitslosigkeit deutlich verringern kann, oder kann man da wahrscheinlich nicht viel machen?" beantworten 57 Prozent der Deutschen mit: "Ja, ich glaube, man kann sie verringern." Nur 30 Prozent zweifeln daran. Daß die Bevölkerung darin vor allem eine Aufgabe des Staates sieht, zeigt die Frage: "Was erwarten Sie von der Politik?" Dazu wurde eine Liste mit 25 Angaben vorgelegt; zu den am häufigsten ausgewählten gehörte "Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen" (76 Prozent). Ein weiteres Beispiel bietet die Frage "Wie beurteilen Sie die Anstrengungen der Bundesregierung, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen? Hat die Bun-desregierung da genug getan, oder hätte sie mehr tun können?" "Sie hat genug getan" sagen zwei Prozent der Bevölkerung. 88 Prozent sind der Ansicht, die Regierung hätte mehr tun können. Keine Rede davon, daß die Regierung grundsätzlich gegenüber der Arbeitslosigkeit machtlos sei.

Die Bedeutung des Themas Wirtschaft im Wahlkampf zeigt sich auch in den Panel-Umfragen, die es ermöglichen, die Motive der Wechselwähler zu analysieren. Das Ergebnis: Diejenigen, die sich zwischen 1998 und heute von der SPD abwandten, haben vor allem den Glauben verloren, daß die Sozialdemokraten das Problem der Arbeitslosigkeit lösen können. Kein anderer Faktor ist enger mit der Abwanderung von der SPD verbunden.

Konrad Lorenz hat einmal gesagt, der Mensch habe zuerst das Nachdenken gelernt und erst viel später das Nachsehen. Tatsächlich läßt sich dies an der Geschichte der Naturwissenschaften nachvollziehen: Sie kamen erst zur vollen Entfaltung, als die Forscher begannen, ihre Erkenntnisse aus systematischen Beobachtungen und Experimenten zu ziehen und nicht allein aus theoretischen Erörterungen. Wie schön wäre es, wenn es gelänge, die Demoskopie in Forschung und Lehre an den Universitäten zu verankern. Dann wäre es auch in den Sozialwissenschaften leichter, Irrtümer und falsche Annahmen über die Gesellschaft zu überwinden. (Mit freundlicher Genehmigung von Criticón, Zeitschrift für Wirtschaft, Politik und Kultur.)