28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
14.09.02 / Putin will vereinfachten Grenzverkehr zwischen Rußland und der EU: "Auf Visa verzichten"

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. September 2002


Putin will vereinfachten Grenzverkehr zwischen Rußland und der EU: "Auf Visa verzichten"
Vor allem Königsberg würde davon profitieren

Sitzt der gegenwärtig engagierteste Europapolitiker womöglich im Kreml? Man könnte meinen, es habe niemand eiliger, die politisch-juristischen Grenzen auf dem Kontinent niederzureißen, als Wladimir Putin. In Briefen an die Regierungschefs in der Europäischen Union hat der russische Präsident den gegenseitigen Verzicht auf Visa vorgeschlagen. Die EU könnte damit beweisen, daß ihr an einem gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheitsraum gelegen sei, argumentierte Putin. Kein Sichtvermerk für Belgier, Italiener, Deutsche bei der Fahrt nach Rußland, kein wochenlanges Anstehen russischer Bürger nach dem begehrten Stempel für eine Reise nach München oder Rom?

Mit seinem Ansinnen bringt der Präsident vor allem die stockenden Verhandlungen über die Anbindung der Exklave Königsberg wieder in Gang. Auch deren Bewohner könnten dann ab 2004, wenn die Region von Mitgliedsländern der EU umgeben sein wird, ohne große bürokratische Formalitäten auf dem Landweg ins russische Kernland reisen und umgekehrt. Bisher beharrt die Union auf ihrer Forderung, daß alle Grenzübertritte in den Geltungsbereich des Schengener Abkommens dem Visa-Regime unterliegen, also auch Transitreisen. Moskau will das für die Verkehrswege von und nach Königsberg nicht akzeptieren und ver- langte bisher einen visumfreien Korridor durch Litauen oder Polen.

Allerdings ist Rußland offenbar klar, daß die Brüsseler Prinzipie keine Schikane ist, sondern auf der Furcht vor unkontrollierter Einwanderung gründet, auf der Furcht vor allem vor einem "Import" der Kriminalität aus dem GUS-Raum. Deshalb wäre Rußland bereit, die Sicherheit an seinen Grenzen zu erhöhen. Maximal sechs Jahre würden der Administration dafür reichen, versicherte Putins Sonderbeauftragter für Königsberg, Dmitrij Rogosin, in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus. Immerhin benötigten selbst die EU-Neulinge Polen und das Baltikum noch bis zu drei Jahre nach ihrem Anschluß, um die Schengen-Regelungen komplett umzusetzen. Der Tageszeitung Iswestija erklärte Rogosin, bei entsprechenden Zugeständnissen durch die EU biete das Schengen-Abkommen bereits genügend Flexibilität. Es müsse vor Einbeziehung Rußlands nicht extra geändert werden.

Das Thema Korridor steht deshalb explizit auch nicht mehr auf der Tagesordnung. "Das würde", sagt Rogosin, "Exterritorialität heißen, das wollen wir nicht." Für die Übergangszeit, bis der Visum-Zwang abgeschafft ist, schlägt er Kompromisse für die Region Königsberg vor. Zum Beispiel einen internationalen Transitzug über litauisches Territorium, "den man mit modernen elektronischen Mitteln so kontrollieren muß, daß illegale Einwanderer ihn nicht benutzen oder verlassen können - ohne Haltestellen, mit Polizeibegleitung und Paßkontrollen schon beim Ticketkauf" (Rogosin). Ähnliche Restriktionen müßten für den Bustransit gelten, für den privaten Autoverkehr könnte man gar Schengen-Visa für die eigenen Landsleute akzeptieren.

Für sein Programm sieht Wladimir Putin allein schon der gemeinsamen Bekämpfung des Terrorismus und der illegalen Einwan- derung wegen gute Chancen, in Brüssel akzeptiert zu werden. Bekanntlich hat Frankreichs Präsident Jacques Chirac bereits seine Fürsprache für eine visumfreie Regelung für Königsberg signalisiert, und auch die Bundesregierung rückt offenbar von ihrer Position ab, die Entscheidung allein auf die EU abzuwälzen. Einen weiteren prominenten Anwalt hat Moskau im früheren Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Er wertet Putins Vorschlag als Beweis für die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen um eine Annäherung Rußlands an die Europäische Union, zitierte der online-Dienst gazeta.ru. Die Verwirklichung eines grenzfreien Europas sei auf lange Sicht realistisch, ließ Genscher dem Präsidenten übermitteln.

Der Gouverneur des Königsberger Gebietes, Wladimir Jegorow, hofft, daß möglichst bald ein partnerschaftlicher Vertrag geschlossen wird, der die Interessen der Königsberger Bewohner, der baltischen Region, aller Russen und aller Europäer berücksichtigt. Kritik kommt hingegen von Wladimir Lukin, dem Vize-Sprecher der Staatsduma, weil Putin die Abgeordneten nicht informiert habe: "Das drückt etwas aus über das Verhältnis einiger Kreise der Kreml-Administration gegenüber dem eigenen Parlament." Grundsätzlich befürwortet Lukin die Idee. Allerdings würden Sicherheitsfragen, Ausweisung, der Umgang mit Kriminellen und mafiosen Strukturen eine Verwirk- lichung erst in nächster Zukunft, etwa in fünf Jahren, zulassen.

Michail Margalow, Vorsitzender des Föderationskomitees für internationale Beziehungen, sieht den Vorschlag als nur logische Konsequenz aus dem Grundlagenvertrag, den Rußland und die EU 1994 unterzeichnet haben. Darin war festgelegt worden: Rußland und die Europäische Union sollten sich um die visumfreie Reisemöglichkeit sowohl von Bürgern der EU nach Rußland als auch von Russen in die EU bemühen; die EU sollte sich verpflichten, weder russische Unternehmen noch Personen beim Transit über ihr Territorium zu behindern.

Einige Leser der Iswestija beurteilen den Putin-Vorschlag eher skeptisch, weil "wir hier im Land einen völlig anderen Standard haben". Weitere Probleme könnten bereits bestehende Visaregelungen mit sich bringen: "Wir haben offene Grenzen zur USA und ein liberales Visaregime mit China. Wenn Rußland in das Schengen-Abkommen einbezogen würde, müßten wir unsere Beziehungen zu Ländern wie den USA, der Ukraine, zu Weißrußland, dem Kaukasus und den Ländern Zentralasiens ändern", schrieb ein Leser. Eine interessante Vermutung las sich in der Nesawissimaja Gaseta: Initiativen wie die Putins würden gewöhnlich verkündet, wenn die Lobbyisten sich schon bis ins Detail einig seien und diplomatische Spezialisten längst alle Einzelheiten ausgearbeitet hätten. Aber auch die Unterstellung findet sich in den Spalten, daß die Vorgehensweise des Kremlchefs an eine sowjetische Praxis erinnert, als die Kremlherren während des Kalten Krieges "ihren amerikanischen Feinden" Vorschläge unterbreiteten, die diese gar nicht annehmen konnten - nur in der Absicht, die "friedliebende" Sowjetunion in ein gutes Licht gegenüber den "aggressiven" USA zu rücken.

Obwohl selbst von russischen Zeitungslesern als Argument gegen eine zügige Umsetzung des Putin-Vorschlages angeführt, weist Sonderbeauftragter Rogosin entschieden zurück, daß es "bei uns jede Menge ,menschlichen Abfall' gibt, der nach Europa ausreisen will, um dort seinen kriminellen Geschäften nachzugehen", wie es in einem Zeitungsbeitrag hieß. Gerade für die Exklave Königsberg treffe das nicht zu: "Die Verbrechensrate liegt nicht über dem Durchschnitt. Sie ist niedriger als in Moskau oder St. Petersburg." Die HIV-Infektionsrate sei auch nicht höher als in anderen großen Städten Rußlands, wehrte sich Rogosin im Focus: "Kaliningrad hat das Image einer Ausgeburt der Hölle, einer Brutstätte des Banditentums oder einer gewaltigen Müllhalde. Das ist unfair."

Autonomiebestrebungen Königsbergs erteilte der Sonderbeauftragte eine Absage. Laut Verfassung sei selbständige Außen-

politik von Mitgliedern der Föderation ausgeschlossen. Nach seinen Erkenntnissen ist die Zahl der Autonomiebefürworter ohnehin wesentlich geringer als in anderen Regionen.

Auf den Vorhalt, manche wollten Königsberg schon an Deutschland verkaufen, entgegnete der Sonderbeauftragte im Focus-Interview: "Einige spekulieren wohl darauf, daß, je mehr sich die politische Lage entspannt, desto größer die Rolle Deutschlands sein wird. Sie fürchten keine imperialistischen oder Revanchegelüste. Dafür gibt es ja auch keine Anhaltspunkte. Die Zeit ist eine andere, in einem vereinten Europa macht so etwas ja keinen Sinn."Manuela Rosenthal-Kappi/wel