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12.10.02 / Bundeswehr: Eine Armee zerfällt

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. Oktober 2002


Bundeswehr: Eine Armee zerfällt
Großspurige Pläne - aber kein Geld
von Jan Heitmann

Hauptbootsmann Christian Bruns hat langsam die Nase voll. An seiner Ordensspange prangen die Bänder gleich mehrerer Einsatzmedaillen. Er ist ein Veteran der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Erst Embargoüberwachung in der Adria, dann Einsatz auf dem Balkan, und jetzt Djibouti. Dazwischen immer wieder Einschiffung auf Einheiten der Flotte und längere Übungen.

Das bedeutet viele Monate Abwesenheit von zu Hause. Monate, in denen seine Familie ohne den Vater auskommen muß. "Langsam reicht es. Es sind immer dieselben, die ins Ausland gehen. Meine Familie macht das nicht mehr lange mit", klagt der 36jährige. So wie ihm geht es vielen längerdienenden Soldaten. Über die Zusage von Verteidigungsminister Peter Struck, die Führung in Afghanistan zu übernehmen, kann der erfahrene Berufssoldat daher nur den Kopf schütteln.

"Deutsche an allen Fronten: die überforderte Armee" titelte das Nachrichtenmagazin Spiegel im Frühjahr. Tatsächlich sind deutsche Soldaten fast global im Einsatz. Das Gros dient derzeit auf dem Balkan. Im Kosovo leisten 4.600 Bundeswehrangehörige Dienst bei den "Kosovo Forces" (KFOR), 1.500 sind in Bosnien-Herzegowina bei den "Stabilisation Forces" (SFOR), und 230 Mann dienen in der "Task Force Fox" (TFF) in Mazedonien. Die Marine stellt eine Einheit mit 320 Mann für die "Standing Naval Force Mediterranean - Active Endeavor" im östlichen Mittelmeer. Außerdem hat sie im Rahmen der Operation "Enduring Freedom" fünf Schiffe und zwei Hubschrauber mit insgesamt über 1.000 Mann im Einsatz, die von Djibouti aus operieren.

Auch die Marineflieger sind mit drei Seefernaufklärern vom Typ "Bréguet Atlantic" und etwa 150 Mann von Kenia aus im Einsatz. Bis vor kurzem waren zudem noch fünf Schnellboote am Horn von Afrika dabei. Vergleichsweise klein sind das 50 Mann starke Kontingent an ABC-Abwehrkräften, das in Kuweit stationiert ist, und das Elf-Mann-Detachement von UNOMIG in Georgien. Der heikelste Einsatz der Bundeswehr findet in Kabul statt. Hier sichern 1.100 deutsche Soldaten der "International Security Assistance Force" (Isaf) einen mehr als brüchigen Frieden. Logistische Un-terstützung erhalten sie durch 180 Soldaten, die in Usbekistan stationiert sind. Schließlich ist die Bundeswehr noch mit zehn Mann bei CENTCOM in Tampa/Florida vertreten, von wo aus die USA ihren weltweiten "Kampf gegen den Terror" koordinieren. Hinzu kommen noch kleinere Gruppen von Verbindungskommandos, Waffeninspektoren und Militärberatern.

Insgesamt macht dies fast 10.000 Soldaten aus. Angesichts einer Gesamtstärke der Bundeswehr von noch deutlich über 300.000 Mann scheint dies nicht besonders ins Gewicht zu fallen. Doch kommt auf jedes Kontingent, das sich im Einsatz befindet, ein weiteres in der Ausbildung und Einsatzvorbereitung und eines in der Einsatznachbereitung. Außerdem werden durch den Auslandseinsatz Führungs-, Versorgungs- und Transportkapazitäten im Heimatland gebunden.

Dies hat gravierende Auswirkungen auf den Truppenalltag in den Standorten. Die Truppenzeitschrift Y hat sie kürzlich am Beispiel eines Stabs- und Fernmeldebataillons verdeutlicht. Vom Kommandeur bis zum Mannschaftsdienstgrad verlegten 150 Soldaten auf den Balkan. Einen großen Teil des Führungs- und Funktionspersonals nahm der Kommandeur mit. Zurück blieben 300. Von den Einheitsführern und den Abteilungsleitern des Stabes gingen nur der Versorgungsoffizier, der technische Offizier und ein Kompaniechef nicht in den Einsatz. Die anderen Abteilungen sind also nicht bloß stark ausgedünnt, sondern auch führerlos.

Trotzdem werden die Aufträge in der Heimat nicht weniger. Hinzu kommen die Umsetzung der Bundeswehrreform, die Vorbereitung einer gravierenden Umstrukturierung des Verbandes, ein Umzug innerhalb der Kaserne und Versuche mit neuem Gerät. Überstunden sind an der Tagesordnung. Das Bataillon gerät an die äußerste Grenze seiner personellen Leistungsfähigkeit. Auch die materielle Einsatzfähigkeit ist oft nicht mehr gewährleistet: Die Verbände in der Heimat werden systematisch ausgeschlachtet, um Engpässe im fernen Einsatzland auszugleichen.

Bei der Frühjahrstagung der Kommandeure kritisierten die Generäle in einer bis dahin nicht gekannten Offenheit die politische Führung und warnten vor einer weiteren Überforderung der Truppe und einer Vergrößerung der Schere zwischen Auftrag und Mitteln. In den Medien war von einem "Aufstand der Generäle" die Rede. Doch passiert ist nichts.

Besonders gravierend wirkt sich die Überforderung der Truppe natürlich für die Soldaten im Einsatz aus, die oft unter improvisierten Bedingungen operieren müssen. Ungewohnte klimatische Bedingungen, primitive Unterbringung, langer Tagesdienst, körperliche Anstrengungen, mangelnde Privatsphäre, das Gefangensein im Feldlager und nicht zuletzt eine latente Gefahr für Leib und Leben bestimmen den monatelangen Einsatz. Auch die persönliche Ausrüstung und die Bekleidung sind nicht immer optimal exotischen Bedingungen angemessen. Das alles zehrt an Körper und Seele. Es spricht für die Professionalität der deutschen Soldaten, daß sie trotz der Misere noch immer international geachtete Leistungen erbringen.

"Auch wenn es klemmt, wir stemmen den Auftrag!" heißt die trotzige Losung. Aber wie lange noch? Selbst ein halbes Jahr nach dem Beginn der Operation in Afghanistan leiden die Deutschen in Kabul noch unter erheblichen Mängeln - mitten in einem brodelnden Kessel, der jederzeit explodieren könnte. Sie verfügen nicht einmal über genügend minen- und beschußsichere Ausrüstung und Fahrzeuge oder hinreichend eigenes Fluggerät. Ihre Chancen, einem Hinterhalt ungeschoren zu entkommen, sind daher ebenso gering wie die Möglichkeit, die Truppe bei großer Gefahr zu evakuieren. Daraus macht selbst der deutsche Kommandeur am Hindukusch, Fallschirmjägergeneral Carl Hubertus von Butler, keinen Hehl. Nach seiner Beurteilung droht den Soldaten zwar keine konkrete Gefahr, aber die Lage sei doch sehr unsicher.

Das ist sie auch in Bosnien, wo die Bundeswehr nun schon seit sechs Jahren Flüchtlinge zurück-führt, Waffenlager aushebt, Minen räumt, Kriegsverbrecher jagt und beim Wiederaufbau hilft. Trotz dieser gewaltigen Anstrengungen - die Meldungen von dort sind alles andere als ermutigend. Beobachter sind sich sicher, daß die ethnischen Konflikte wieder aufbrächen, sobald die SFOR-Kräfte das Feld räumten. Gleiches vernimmt man aus dem Kosovo. Zwar hat die Uno dort gewisse staatliche Grundlagen und einen Verfassungsrahmen geschaffen, doch die ehemaligen Bürgerkriegsparteien achten derlei Errungenschaften nicht sonderlich.

Je länger ein Einsatz dauert, um so personalintensiver wird er, denn die Kontingente werden regelmäßig ausgewechselt. Alle Personalreserven aber sind längst ausgeschöpft. Bei derzeit zehn Auslandseinsätzen mit fast 10.000 Soldaten und einem alle paar Monate anstehenden Kontingentwechsel ist leicht errechnet, wann jeder freiwillig Dienende "wieder drankommt". Der erste Auslandseinsatz ist noch interessant, bietet er doch eine spannende Ausbildung, Abwechslung vom Truppenalltag, einen sinnvoll erscheinenden Auftrag und finanzielle Vorteile. Beim zweiten Marsch in die Ferne ist die Freude schon nicht mehr ganz so groß. Kommen dann noch weitere Einsätze, häufen sich persönliche Probleme.

Bei den Mannschaften treten häusliche Sorgen in der Regel nicht auf. Sie verpflichten sich für einige Monate über den Grundwehrdienst hinaus, erleben einen interessanten Einsatz und werden entlassen. Anders bei den Zeit- und Berufssoldaten: Vor allem die erfahrenen Portepeeunteroffiziere werden durch die Auslandsoperationen stark beansprucht und haben hohe persönliche Lasten zu tragen.

Viele Ehen überstehen einen längeren oder wiederholten Einsatz nicht. Die Scheidungsrate bei den längerdienenden Soldaten liegt weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Viele Partnerinnen wollen nicht immer wieder auf den Mann verzichten und die Probleme des Alltags allein meistern müssen. Andere fürchten nach einigen für die Bundeswehr sehr unrühmlichen Vorfällen, bei Tod oder Verwundung des Partners nicht ausreichend abgesichert zu sein. Um ihnen zu helfen, hat die Bundeswehr Familienbetreuungszentren eingerichtet. Hier werden den Angehörigen vielfältige Hilfen geboten, von regelmäßigen Informationen aus dem Einsatzland und persönlichen Beratungsgesprächen über konkrete Hilfen in Alltagsfragen bis hin zu psychologischer Betreuung.

Zwar weiß jeder Soldat, worauf er sich einläßt, wenn er sich freiwillig zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet. Doch war die rege Auslandstätigkeit der Bun-deswehr selbst vor wenigen Jahren noch nicht absehbar. Viele Betroffene sind noch in eine Bundeswehr eingetreten, deren Auftrag ausschließlich die Landesverteidigung war. Bis es plötzlich hieß: Marsch, marsch an alle Fronten!

Alle diese Faktoren schlagen auf den Diensteifer und die Leistungsfähigkeit der Soldaten durch. Da werden schon mal kaum eindeutig zu diagnostizierende Wehwehchen angegeben, um die Aberkennung der Auslandsverwendungsfähigkeit oder der Borddiensttauglichkeit zu erreichen. Ältere Soldaten gehen freudig in den vorzeitigen Ruhestand.

Brigadegeneral Dieter Löchel, Beauftragter des Generalinspekteurs für Erziehung und Ausbildung, zeichnet in seinem Jahresbericht ein verheerendes Bild von der inneren Lage der Streitkräfte. Danach erkennen sich viele Soldaten in dem von der Führung dargestellten Berufsbild nicht mehr wieder. Selbst eine verbesserte Besoldung, attraktive Laufbahnmodelle und Berufsabschlüsse können sie nicht halten. Auch Werbemaßnahmen haben nicht mehr den gewünschten Erfolg. Der Nachwuchs entspricht in Menge und Qualität nicht mehr den Erfordernissen. Der Personalbedarf für die Auslandsaufträge wird also größer, die Personalstärke der Bundeswehr dagegen nicht.

Politiker und Militärplaner kommen an den Realitäten nicht mehr vorbei. Mehr Personal läßt die desolate Haushaltslage nicht zu. Deshalb reduziert die Bundeswehr ihre Präsenz auf dem Balkan. Damit soll eine Totalüberforderung der Streitkräfte ver- mieden werden. Doch statt der vom ehemaligen Generalinspekteur Harald Kujat geforderten "Konsolidierung der Einsätze" strebt Verteidigungsminister Struck nun zu allem Überfluß die Führung der internationalen Schutztruppe in Afghanistan an.

Als Führungsnation muß Deutschland sein Afghanistan-Kontingent verstärken. Neben der Or- ganisation des Lufttrans-portes obliegen der Leitnation vor allem die Bereitstellung und der Betrieb der Fernmeldekapazitäten im Einsatzland. Außerdem ist sie für die Koordinierung des Einsatzes der multinationalen Schutztruppe und für die Absprachen mit der afghanischen Regierung zuständig. Noch im Frühjahr hat die Bundeswehr diese Führungsrolle abgelehnt, da die deutschen Kommandostrukturen und die Ausrüstung, insbesondere im Bereich der Kommunikation und des Lufttransportwesens, noch nicht auf einen solchen Auftrag ausgelegt seien. Außerdem würde die Umstrukturierung der Streitkräfte in der Heimat ins Stocken geraten.

Kritiker einer Auftragserweiterung bezweifeln, daß sich daran in den vergangenen sechs Monaten Wesentliches geändert hat. Mit Schaudern erinnern sie sich an die Blamage bei der Verlegung des deutschen Vorkommandos nach Kabul. Damals mußten die Soldaten mit ausländischen Militärmaschinen in einer wahren Odyssee und mit tagelangen Verzögerungen ins Einsatzland geflogen werden. Deutsche Lufttransportkapazitäten standen und stehen für die Personalverlegung und den Materialtransport nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung.

 

"Auch wenn es klemmt, wir stemmen den Auftrag." Noch versuchen die Soldaten der Misere mit Trotz beizukommen: Deutscher Rekrut bei seiner Ausbildung für den Mazedonien-Einsatz Foto: dpa