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19.10.02 / Nach der Wahl: Gnadenlos abgestraft / Lettische Parteien haben kurze Halbwertszeiten

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Oktober 2002


Nach der Wahl: Gnadenlos abgestraft
Lettische Parteien haben kurze Halbwertszeiten
von Martin Schmidt

In Lettland hat sich nach den Parlamentswahlen vom 5. Oktober alles verändert oder so gut wie nichts. Je nachdem, wie man es sieht.

Die künftige Regierung setzt sich wahrscheinlich völlig anders zusammensetzen als die bisherige von Ministerpräsident Andris Berzins. Dessen liberal-konservative Formation Lettlands Weg scheiterte mit 4,88 Prozent sogar an der Fünf-Prozent-Hürde (1998: 18,22 Prozent), obwohl die vergangene Legislaturperiode keinesfalls als total gescheitert gelten kann.

Die Wechselstimmung rührt vor allem daher, daß der lettische Normalbürger die von der Werbung allerorten geweckten materiellen Sehnsüchte des neuen Zeitalters endlich auch für sich selbst erfüllt wissen will. Regierungen, von denen die meisten der 2,4 Millionen Bewohner der Baltenrepublik den Eindruck haben, sie würden sie diesem Ziel nicht schnell genug näherbringen, werden kurzerhand abgewählt. In diesem Sinne erhielt auch die christdemokratischen Volkspartei von Andris Skele als bislang stärkste Kraft eine Ohrfeige mit dem Stimmzettel. Sie fiel allerdings nicht ganz so schallend ausfiel wie bei Lettlands Weg: Die Volkspartei bleibt im Parlament, rutscht jedoch von 21,2 auf 16,7 Prozent ab.

Ebenfalls zu den Verlierern gehören die nationalkonservative Partei "Für Vaterland und Freiheit" mit 5,4 statt bisher 14,7 Prozent sowie die in drei Gruppierungen gespaltenen Sozialdemokraten, die jeweils an der Sperrklausel scheiterten (1998 hatten sie immerhin 12,87 Prozent erreicht).

Auf der anderen Seite stehen die Gewinner, die - in Lettland ist das schon zur Gewohnheit geworden - die Machtstrukturen erneut völlig umkrempeln. Da ist zuallererst die nationalliberale "Neue Zeit" (JL) des erst 38jährigen früheren Nationalbankchefs Einars Repse, die bei ihrer Premiere mit 23,93 Prozent gleich stärkste Partei wurde.

Platz zwei belegte, gleichfalls aus dem Stand, das Linksbündnis "Für Menschenrechte in einem vereinten Lettland" mit 18,93 Prozent. Von dieser Sammlungsbewegung, die in der Hauptstadt Riga alle anderen überrundete, fühlen sich lettische Kommunisten und sehr viele Angehörige des slawischen Bevölkerungsteils am besten vertreten.

Die dritte Formation, die auf Anhieb ins Parlament einzieht, ist die christliche Erste Partei Lettlands (LPP). Sie landete bei 9,58 Prozent. Gleiches schaffte die EU-kritische Union aus Grünen und Landwirten (ZZS) mit 9,46 Prozent.

Der mutmaßliche neue Regierungschef Repse kündigte am 8. Oktober an, eine Koalition aus seiner JL, der LPP, der ZZS und der Partei Für Vaterland und Freiheit bilden zu wollen. Zusammen hätte diese 55 von 100 Sitzen im achten Saeima. Wieder wäre es eine Mitte-Rechts-Regierung, womit in Riga in Sachen Wirtschaftsreformen und EU- bzw. NATO-Beitritt alles beim alten bliebe. Dennoch hoben internationale Berichterstatter kritisch auf die Wankelmütigkeit der lettischen Wähler ab, die die parteipolitischen Vorlieben wechseln wie andere ihre Hemden und offenbar ein besonderes Faible für Neugründungen haben. Man kann es aber auch positiv sehen: In einem Staat mit wuchernder Korruption erscheint es als Vorteil, die machthabenden Politiker schon nach einer Amtszeit in die Wüste zu schicken.

Erfreulich ist ebenso, daß sich die Zustimmung der Letten nicht durch Wahlwerbung "kaufen" läßt. Obwohl die Parteien im letzten Jahrzehnt einen stetig wachsenden PR-Aufwand betrieben haben und ihre Ausgaben mit 2,8 Lats pro Wähler (= 4,7 Euro) sogar höher als in den USA sind, mutet das Ergebnis paradox an: die Parteien mit dem größten Werbeetat schnitten besonders schlecht ab.

Eine Studie der lettischen Filiale der Soros-Stiftung ermittelte die Volkspartei als Krösus in Sachen Wahlkampfkosten (0,9 Lats pro Wähler), gefolgt vom Lettischen Weg (0,35 Lats), der Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (0,34 Lats), Für Vaterland und Freiheit (0,3 Lats), der Neuen Zeit (0,24 Lats), der Ersten Partei Lettlands (0,16 Lats) sowie dem Linksbündnis Für Menschenrechte in einem vereinigten Lettland (0,14 Lats).

Was das für die kleine Baltenrepublik überaus sensible Verhältnis zu Rußland und dem eigenen slawischen Bevölkerungsanteil (47 Prozent) betrifft, dürfte es mit einer Regierung Repse allenfalls Akzentverschiebungen geben.

Grob gesagt geht es um folgende Alternativen: Sollen die überwiegend russischen Zuwanderer aus der Sowjetzeit mit nachhaltigem staatlichen Druck zur Einbürgerung und vor allem zur sprachlichen Anpassung gebracht werden und integrationsunwillige Russen wenigstens teilweise zur Aussiedlung in die alte Heimat veranlaßt werden (der Anteil der Bewohner ohne lettischen Paß liegt derzeit bei 23,7 Prozent, während es 1996 noch 30,2 Prozent waren)?

Oder soll man sich auf einen langen Integrationsprozeß bzw. die Verfestigung der russischen Pa-rallelgesellschaft auf lettischem Boden einstellen, wie es offenbar der EU vorschwebt, wenn sie ständig vor der angeblichen Diskriminierung der slawischen "Minderheit" in Lettland warnt?

Einige Vertreter der neuen Koalition betonten bereits, hinsichtlich der russichen Bevölkerungsgruppe bedächtiger vorgehen zu wollen. Alinars Slesers, ehemaliger Wirtschaftsminister und einer der Vorsitzenden der christlichen LPP, sagte gegenüber der russischen Agentur ITAR-TASS: "Die Beziehungen zwischen Lettland und Rußland sollten so sein wie die zwischen der EU und Rußland und die russisch-amerikanischen Beziehungen."

Demnach sollen sie aber nicht so eng sein, wie die zur Europäischen Union, der man sich politisch-kulturell näher fühlt. Letzteres ist Konsens in Lettland, abgesehen vom Linksaußen-Bündnis des Janis Jurkans. An eine Machtbeteiligung der russophilen Kräfte ist (noch) nicht zu denken.

Trotzdem bildet die "innerrussische Opposition" eine stete Quelle der Beunruhigung. Daß Jurkans zwei Wochen vor der Wahl als dritter lettischer Politiker überhaupt bei einem russischen Staatsoberhaupt zu Gast war - gleiches widerfuhr nur dem Präsidenten der Zwischenkriegszeit, Ulmanis, und der ebenfalls von Putin empfangenen heutigen Präsidentin Freiberga - unterstrich die Berechtigung von Ängsten, der frühere "große Bruder" könnte sich künftig noch stärker einmischen.