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26.10.02 / Sudermanns "Litauische Geschichten" bestürzen noch heute

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 26. Oktober 2002


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Sudermanns "Litauische Geschichten" bestürzen noch heute

Wilwischken liegt am Haff. Ganz dicht am Haff liegt Wilwischken. Und wenn man von dem großen Wasser her in den Parwefluß einbiegen will, muß man so nah an den Häusern vorbei, daß man Lust bekommt, ihnen vom Kahn aus mit ein paar Zwiebeln - es können auch Gelb-rüben sein - die Fenster einzuschmeißen." Mit dieser zweifellos gemütvollen Verlockung beginnt die erste der vier "Litauischen Geschichten", die 1917 veröffentlicht wurden und zum bleibenden Werk Hermann Sudermanns zählen. Geboren wurde der Dramatiker und Schriftsteller am 30. September 1857 im ostpreußischen Matzicken. Immer wieder kehrte er von Berlin, wo er durch die Schauspiele "Die Ehre" und "Heimat" berühmt geworden war, ins memelländische Litauen zurück. Hier fand er die Wurzeln zu seinem Meisterwerk.

Die vier Erzählungen "sind alle hineingebettet in Blut und Geist des litauischen Volkes", urteilte 1927 Kurt Busse in seinem Buch "Hermann Sudermann - sein Werk und sein Wesen". Zum Stil der Litauischen Geschichten, die in der Zeit des erstarkenden Expressionismus entstanden, führte Busse aus: "Jedes nur schildernde, ausdeutende Wort, jede Abschweifung ist vermieden. Nur soviel Natur, wie für die Handlung notwendig ist, kein lyrisches Sichgehenlassen, keine Stimmungsmalerei ..." Allen Erzählungen ist eigen, daß sie die gesamte Skala menschlicher Brutalität, Niedertracht, schicksalhafter Schuld, aber auch menschlicher Größe, Güte aufzeichnen.

"Die Reise nach Tilsit" ist die bekannteste der Litauischen Geschichten, obwohl die drei anderen ihr an Dramatik, an krimineller Energie der Hauptprotagonisten nicht nachstehen. Der Landwirt und Fischer Ansas Balczus ist sexuell der bei ihm arbeitenden Busze verfallen. Sie selbst ist Landwirtstochter, brauchte nicht auf fremdem Boden die Magd zu spielen. Doch sie streunt von Hof zu Hof, verführt die Besitzer, zerrüttet Ehen und zieht zu neuem Männerfang weiter. Die wechselnde Liebe ist ihr Lebenselixier. Die Dörfler wissen, was mit ihr los ist: Mannstollheit. Aber den Ansas will sie heiraten. Der jedoch ist - war bislang - in beglückender Ehe mit Indre Jaksztat verheiratet. Drei Kinder haben sie. Seit Busze auf dem Hof ist, greift Ansas oft zur Flasche, schlägt Indre; sie ist ihm und Busze hinderlich. "Also die Indre muß fort. Das ist beschlossene Sache. Es fragt sich bloß, wie." Beide entwickeln den Mordplan: Ansas und Busze täuschen Trennung vor. Zum Zeichen seines Versöhnungswillens bittet Ansas Indre, eine Art zweite Hochzeitsreise auf dem Wasserweg, mitten ins Memeldelta, zu unternehmen. Eine "Reise nach Tilsit" böte sich an. Dort gäbe es jetzt eine Eisenbahnstation, piekfeine Konditoreien, Spezialitätenrestaurants. Indre fürchtet sich vor Wasserreisen; sie kann nicht schwimmen. Sie weiß, daß auf dieser Fahrt die "Windenburger Ecke", die gefährlichste Stelle mit Kentergefahr, passiert werden muß. Um der "Versöhnung" willen stimmt sie zu. Wenn da nur nicht die innere Warnung wäre, dies bange: Meint Ansas es ehrlich - oder komme ich nicht zurück? Unsinn! Er hat sich von Busze getrennt. Indre überwindet ihre Bedenken: Ansas liebt sie! Gewiß doch! Bestimmt! Vor Sonnenaufgang fahren sie los ...

Ein länglicher Sack erregt erneut Indres Mißtrauen. Sie scheut die Frage, was er enthält. Es sind gebündelte Binsen, die man sich auf den Rücken bindet, um notfalls weite Strecken schwimmen zu können. Buszes Planteil war: Ansas soll den Kahn kentern lassen und mittels der Binsen sicher an Land gelangen ...

Gegen Abend ihrer "Versöhnungsreise" kauft Indre in Tilsit Geschenke; Ansas soll sie als "Andenken" den Kindern übergeben. Entsetzt und wissend, daß Indre die Mordabsicht ahnt - oder doch insgeheim fürchtet -, starrt er sie an. Der Bann der Busze weicht von ihm. Wozu, um Himmels willen, hatte er sich verleiten lassen? Auf der Rückreise vereinigt sich Ansas mit Indre - sie werden müde. Einer muß wachen! Aber sie schlafen ein. Führerlos treibt der Kahn der "Windenburger Ecke" zu. Er kentert ...

Im Morgengrauen wird Indre, auf dem Wasser treibend, von befreundeten Fischern gerettet. Die Binsen hatte Ansas ihr in letzter Minute an den Körper gebunden. Seinen Leichnam entdeckte man zwei Tage später am Strand. "Galas" nannte Indre den Sohn, den sie gebar - und das bedeutet "Abschluß".

Soweit die "Reise nach Tilsit". Die weiteren Erzählungen "Miks Bumbullis", "Jons und Erdme", "Die Magd" bezeugen die Meisterschaft Sudermanns, seelische, und mit ihnen verquickte Grauensgeschehnisse bestürzend darzustellen. Esther Knorr-Anders