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16.11.02 / Irrungen und Wirrungen / Einst war Deutschlands Bildungssystem ein Vorbild - heute haben falsche Reformen das Land der Dichter und Denker anscheinend in eine Sackgasse geführt/

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 16. November 2002


Irrungen und Wirrungen
Einst war Deutschlands Bildungssystem ein Vorbild - heute haben falsche Reformen das Land der Dichter und Denker anscheinend in eine Sackgasse geführt
von Klaus Hornung

Wie sich die Befunde gleichen: Deutschland ist heute ökonomisch ein "schrumpfender Riese". Aus dem einstigen Wirtschaftswunderland ist Europas Schlußlicht in Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum geworden und der Europameister in der öffentlichen Verschuldung.

Nun belegt die Internationale Vergleichsstudie der OECD unter der Bezeichnung PISA (Programme for International Student Assessment), daß unser Land heute auch in Bildung und Schule unter 32 Nationen einen unterdurchschnittlichen Platz belegt. Die zahlreichen Ausländerkinder in deutschen Schulen mögen die deutschen Ränge zusätzlich nach unten gedrückt haben. Gleichwohl muß die Untersuchung alarmieren, kommt sie doch nur oberflächlichen Schönrednern über- raschend.

Wir kommen nicht darum herum: Das ist das folgerichtige Ergebnis von drei Jahrzehnten wachsender Bequemlichkeit in der deutschen Wohlstandsgesellschaft, Ergebnis nicht zuletzt unseres Emanzipations-evangeliums mit seinem Vorrang der "Selbstverwirklichung" und der materiellen Ansprüche, der Menschenrecht vor den Menschen- pflichten, auch schwerwiegender Mißverständnisse von "Demokratie" und "Demokratisierung" in Schule und Bildung.

Offensichtlich stand die Entwicklung unseres Bildungswesens seit den sechziger Jahren unter dem in der Geschichte nicht unbekannten Gesetz der ungewollten Wirkungen, garantierte wieder einmal das Gutgemeinte, nicht das Gute. Ein klassisches Exempel bot die 1964 erschienene Schrift "Die deutsche Bildungskatastrophe" des Pädagogen Georg Picht, langjähriger Leiter des Internats Birklehof im Schwarzwald. Der Autor konstatierte ein bedenkliches Zurück-bleiben des deutschen Bildungswesens im internationalen Vergleich, angeblich vor allem gegenüber dem amerikanischen High School-System.

Das "konservative" dreigliedrige deutsche Schulwesen, so Picht, habe einer modernen im internationalen Wettbewerb stehenden Industriegesellschaft nicht mehr entsprochen. Nicht zuletzt wies er der Schule die gesellschaftspolitische Aufgabe der Herstellung weitgehender sozialer Gleichheit zu. Kurz darauf intonierte Ralf Dahrendorf den Schlachtruf "Bildung ist Bürgerrecht", der dann von Schulpolitikern, Parteien, Erziehungswissenschaftlern und Medien begierig aufgenommen wurde. Slogans und Aktionen wie "Schick' dein Kind länger auf bessere Schulen!" sollten die anstehenden Schulreformen voranbringen.

Nun sollen Reformnotwendigkeiten im deutschen Bildungswesen seit den sechziger Jahren gar nicht pauschal geleugnet werden. Doch viele ihrer Prämissen waren erkennbar falsch, insbesondere der Vorrang gesellschaftspolitischer Forderungen vor pädagogischen Kriterien und das schulpolitische Denken und Handeln vor allem unter quantitativen Gesichtspunkten: weitaus mehr Abiturienten und Studenten, möglichst große Schulen, viel mehr Lehrer und kleinere Klassen und natürlich eine optimale Ausstattung der Schulen. (Ein Beispiel wurden die Sprachlabors für Fremdsprachenunterricht, die sich rasch als pädagogische Fehlinvestitionen erwiesen)

Schule und Bildung wurden zunehmend im Sinne eines So- zialanspruchs verstanden, vor allem als "Zuteilungsamt für Lebenschancen" wie der Soziologe Helmut Schelsky kritisch einwandte. Die Folgen ließen nicht auf sich warten, die Entleerung der Hauptschulen zu Rest- und Ausländerschulen zugunsten der weiterführenden Schulen, die Senkung der Anforderungen bis hin zum "Abitur zum Nulltarif" (wie der bayerische Kulturminister Hans Maier bald feststellte), zu vielfach mangelnder Studierfähigkeit und hohen Abbrecherquoten an den Hochschulen.

Der tägliche Kleinkrieg zwischen Eltern, Lehrern und Schulen konnte nur ideologisch aufgeplustert werden: schlechte Noten als Ausdruck "undemokratischer" Haltung der Lehrer, wenn nicht die Institution Schule überhaupt als ein Stück "struktureller Gewalt". "Bildungspolitische Placebos" (Prof. Peter Brenner) wurden Trumpf: Gesamtschule, Demokratisierung und Autonomisierung der Schulen, mehr Geld als aller Reformen Anfang, ("undemokratische") Projektorientierung, wenn nicht gar schülerbestimmter Unterricht statt dem überkommenen ("konservativ-autoritären") Frontalunterricht.

Josef Kraus, praxiserfahrener Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, hat in seinem 1998 erschienenen Buch "Spaßpädagogik - Sackgassen deutscher Schulpolitik", das man "die umfassendste und klarste Faktendarstellung der Bildungspolitik und der gefährdeten Schulsituation" in Deutschland genannt hat, die Lage nach dreißig Jahren Reformpolitik gekennzeichnet: Spaß und Selbstsucht anstelle von Leistung und Anstrengung, Elternehrgeiz statt Schule nach Begabung und Eignung, das Niederwalzen der Hauptschule und die Verbilligung des Abiturs, der Vorrang der Verpackung vor den Inhalten und neuerdings gar der "Computer-Trip" der Schulen mit erneuten Hoffnungen auf anstrengungsloses Lernen durch den "elektronischen Nürnberger Trichter".

Heute ist der Traum freier Selbstentfaltung im Disneyland unserer Spaßgesellschaft (Professor Kurt Otten) ausgeträumt, liegt die mangelnde Effizienz unserer bildungspolitischen und pädagogischen Illusionen seit 1968 klar zutage. An die Stelle der schulischen "Legenden der Wohlstandsgesellschaft" (Kultusministerin Annette Schavan) tritt wieder die unersetzbare Aufgabe von Schule, Unterricht, Lernen und Bildung: die Vermittlung eines fundamentalen Wissenskanons im Dienst der Orientierung und Orientierungsfähigkeit. Das dient auch der Identitätsgewinnung der heranwachsenden Menschen angesichts der Überfülle von Optionen in unserer modernen Welt, insbesondere auch ihrer grenzenlosen Informationsfülle, der gegenüber es für die Schulen mehr denn je um die Vermittlung von Grundlagenwissen, Konzentration auf das Wesentliche statt Detailwissen (im Sinne des klassischen unüberholten "multum, non multa", des Entscheidenden statt des Vielerlei) und damit der Fähigkeit geht, Zusammenhänge zu erkennen.

Qualitätssteigerung von Schule und Unterricht wird nicht durch immer neue Diskussionen über immer neue Lernformen erzielt, sondern durch konkrete Inhalte, vor allem in den Curricula der Kernfächer wie Deutsch, Geschichte oder Mathematik. Schule und Unterricht haben ihren unverzichtbaren Teil dazu beigetragen, inmitten des oft rapiden Wandels vieler Lebensbereiche und damit schwindender Sicherheit, Potentiale der Orientierung und Ressourcen von Sinn zu bewahren oder zu erneuern im Interesse der Bildung "wetterfester" Persönlichkeiten (Jörg-Dieter Gauger).

In jüngster Zeit hat sich vor allem die Konrad-Adenauer-Stiftung verdient gemacht mit Vorschlägen beispielsweise zu einem neuen Bildungskanon Geschichte im Sinne der Vermittlung kultureller Identität, die nicht zuletzt gewonnen wird durch überindividuelle Bindung an Volk, Nation und Staat: "Wer die Geschichte nicht kennt, versteht die Gegenwart nicht, er hat für die Zukunft keinen Kompaß. Denn nur sie bietet einen unübertrefflichen Einblick in die Conditio humana. Wer lernen will, was der Mensch ist und wozu er fähig ist, ist auf Geschichte angewiesen im Positiven wie im Negativen. Das heißt freilich, daß Geschichte in ihrer ganzen Breite zu vermitteln ist: Altertum, Mittelalter, Neuzeit, Zeitgeschichte: Keine dieser Epochen ist ohne die ihr vorausgehende in Ausgleich, Spannung und Rezeption zu verstehen."

Im gleichen Sinne hat Josef Kraus den Grundriß historisch-politischer, staatsbürgerlicher und ökonomischer Bildung skizziert. Vermittelt etwa ökonomische Basisbildung die Einsicht, daß der Staat kein "omnipotenter Lieferant und Dienstleister als hypertropher totaler Versorgungsstaat und kein Garant für die Erfüllung von Vollkasko-Ansprüchen" ist, so vermittelt die "Erziehung zur Rechtstreue" die Einsicht in das Wechselspiel von Freiheit und Verantwortung, Rechten und Pflichten.

Das mündet in einer "Erziehung zu einem aufgeklärten Patriotismus", dessen Konstituentien Josef Kraus wie folgt umreißt als kulturelle Identität und Geschichtsbewußtsein im Sinne des christlich-abendländischen Humanismus, als Bewußtsein von den Grundlagen der freiheitlichen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit sowie des antitotalitären Grundkonsenses mit seiner klaren Unterscheidung von moderner Diktatur und freiheitlicher Demokratie.

Kraus nennt ferner den noch immer unaufgebbaren Rahmen der Nation für die Entwicklung von Wirgefühl, Geborgenheit, Solidarität und Gemeinsinn. Dieser Rahmen schließt die Voraussetzungen des inneren Friedens ebenso ein wie die Tugenden der Offenheit und Toleranz, die freilich den eigenen Standpunkt, Identität und Selbstbewußtsein nicht ersetzen, sondern voraussetzen (Kraus: Spaßpädagogik S. 154 ff.).

Kraus hat auch darauf aufmerksam gemacht, daß die deutsche Kultusministerkonferenz bis heute nicht fähig war, "die inhaltlichen Voraussetzungen für ein differenziertes und zugleich konsensfähiges Bild von der Geschichte Deutschlands und von seiner heutigen Rolle in der Welt zu zeichnen". Der Versuch scheiterte bislang nicht nur an Einflüssen der PDS in einigen der neuen Länder, sondern auch an einer zum Teil erbitterten Antihaltung linker Sozialdemokraten gegen-über der deutschen Geschichte und deutschen Interessen in der Gegenwart.

So hat zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen im März 1998 empfohlen, in den deutschen Verfassungen den Begriff "Volk" durch "Gesellschaft" zu ersetzen, da der erstere "historisch belastet und angesichts der gesellschaftlichen Realität von Wanderungsbewegungen nicht mehr zeitgemäß" sei.

Solche Empfehlungen zeigen dann blitzartig die zentrale Ursache gerade auch für die bildungspolitischen Fehlwege in Deutschland während der letzten Jahrzehnte. Denn "Bildung", sowohl personal wie im und für das Gemeinwesen, ist ohne die tiefen Fundamente der Kultur der eigenen Nation und der europäischen Überlieferung, ihrer lebensspendenden Kraft und des Respekts vor ihnen nun einmal nicht möglich. Emanzipation und individuelle Selbstverwirklichung laufen ins Leere, bereiten dem Egoismus und dem Bürgerkrieg den Weg. In einer so dynamischen, hochdifferenzierten und daher störanfälligen Industriezivilisation wie der unseren zollen die Parolen der Bindungs- und Vaterlandslosigkeit nur den auflösenden Kräften Tribut.

Wir bedürfen der Kräfte kollektiver Identität und historisch-politischer Kontinuität, jener immateriellen Antriebe, auf die die Deutschen nach ihrem Mißbrauch durch den totalitären Nationalsozialismus oft allzu leichtfertig verzichten zu können meinten. Denn nur mit diesen Voraussetzungen ist der gebildete Mensch möglich, der nicht manipulierbar ist durch Brot und Spiele und die medialen wie politischen Kommandohöhen, jener wahrhaft aufgeklärte Bürger und Wähler, der historisch-politische Zusammenhänge erkennt und "mündig" zu beurteilen vermag. Unsere neue bildungspolitische Debatte sollte hinter solche Grundeinsichten nicht mehr zurückfallen.