Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 16. November 2002 |
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Schlaraffenstadt von Christel Poepke Es war in jener Zeit, die längst hinter uns liegt. Oder war es jene Zeit, die noch weit vor uns liegt? Ich vermag es nicht zu entscheiden, denn die Dinge liegen oft so und so. Auf alle Fälle war es eine glückliche Zeit voller glücklicher Menschen, die keine Bedürfnisse mehr hatten. Zumindest keine, die sie sich nicht hätten befriedigen können, wenn sie gewollt hätten. Nun - wie das so ist - ein Wunsch, den man sich jederzeit erfüllen kann, der ist eigentlich kein Wunsch mehr. Daher kam es auch, daß die Menschen im Grunde ihres Herzens doch nicht so recht zufrieden waren, denn sie langweilten sich. Gewiß, der Magistrat der Stadt sorgte für alles. Für jede Art von Unterhaltung und Wohlergehen. Jeden Tag wurden auf dem Marktplatz Brote und süßes Gebäck sowie knusprig gebratene Hühner, Spanferkel und zarte Täubchen ausgeteilt, solange dafür Bedürfnis bestand. Auch an Getränken mangelte es nicht. Stets waren mehrere Fässer mit Kornbrand, Bier und Wein, vom süßesten bis zum herb deftigen Landwein, angezapft. Man mußte nur seinen Krug darunter halten, um ihn vollaufen zu lassen. Auch für die Kinder war bestens gesorgt. In einer eigens für sie eingerichteten Ecke flossen Milch und Fruchtsäfte in Strömen, und die Naschwaren hingen zu Girlanden gewunden zwischen den Bäumen. Wenn sich nun - zumindest in der ersten Zeit - die Kinder die Mägen verdarben und vor Bauchweh stöhnten, wurden sie in eine der Krankenstationen geschickt, die in den Nebengassen um den Marktplatz eingerichtet waren. Hier gab es für jedes - aber auch für jedes größere und kleine Leiden ein Pflästerchen, eine Pille oder eine lindernde Salbe, so daß man schon nach kurzer Zeit geheilt davonhüpfen konnte, um sich neuen Freuden und Schlem- mereien hinzugeben. Nun ist das aber so eine Sache. Ist man erst einmal satt, dann schmeckt auch das feinste und weißeste Mandelmilchbrot nicht mehr. Und trinkt man gar zu viel vom süßen und herben Landwein, dann schlägt man lang aufs Pflaster und kann nichts, aber auch gar nichts mehr so recht genießen. So mußte sich der Magistrat der Stadt etwas einfallen lassen, um seine Bürger auch mit geistigen Genüssen zu sättigen, die weniger auf Magen und Gemüt schlugen. Lustige Musikanten wurden von weit her geholt, denn die Bürger der Stadt hatten schon lange verlernt, selbst die Trommel zu schlagen, auf Hörnern zu blasen und die Mandolinen zu zupfen. Tanzen wollten sie, sofern sie das mit ihren dicken Bäuchen und schweren Füßen noch konnten. Auch singen mochten sie. Doch weil dabei jeder seine eigene Lieblingsmelodie sang oder summte, klang es oft grauslig und wurde nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Dagegen war es viel angenehmer, mit seinem Stühlchen am Straßenrand zu sitzen oder mit gekreuzten Armen aus dem Fenster zu lehnen und den Dichtern zuzuhören, die aus fernen Städten angereist kamen, um die wundersamsten Geschichten vorzutragen. Geschichten aus einer ganz anderen Welt. Einer Welt, in der es Hunger gab und fürchterliche Leiden, die man sich so gar nicht vorstellen konnte, selbst wenn die Dichter sie in den gräßlichsten Farben ausmalten. Und weil man es sich so gar nicht vorstellen konnte, fand man auch bald keinen Gefallen mehr daran und jagte diese Dichter zum Tor hinaus, um andere hereinzulassen, die lustige, bunte Geschichten zu erzählen wußten. Geschichten aus Ländern, in denen das Leben noch schöner, noch süßer war, als man es hier kannte. Das wollte man hören. Davon konnte man noch etwas lernen. Eines Tages nun, als die Musik gerade besonders lustig aufgespielt und die Menge fidel auf dem Marktplatz getanzt und geklatscht hatte, war ein seltsames Geräusch in die Stadt gedrungen. Ganz von fern vernahm man etwas, das wie tiefer, dumpfer Paukenton klang. Erst hat- ten's im eigenen Lärm nur wenige gehört. Aber da man sich nun gegenseitig darauf aufmerksam machte und die Musik zum Schweigen brachte, hörten es auch die anderen, und man sah sich erstaunt, fragend, und hie und da wohl auch ein wenig ängstlich an. Was mochte das sein, das da fern hinter den Stadtmauern und wohl auch noch hinterm Horizont so eigenartig dröhnte. Doch niemand fand eine Erklärung dafür. Da fragte man den Dichter, der auf seinem Podest mitten auf dem Marktplatz stand, ob er wohl wüßte, was da hinten in der Ferne solch einen Lärm macht. Er sei schließlich ein weitgereister Mann, der die Welt dort draußen kannte. Die Welt hinter der Stadtmauer und hinterm Horizont. Nun kam unser Dichter in arge Bedrängnis. Er kannte sehr wohl die Welt dort draußen hinter der Stadtmauer und hinterm Horizont. Er kannte inzwischen aber auch die Menschen in dieser Stadt. Er sah in ihre Gesichter und wußte, daß sie nicht begreifen würden - nicht begreifen konnten. Und da sie ihn dauerten, mußte er sich sogleich etwas einfallen lassen. So hob er also nach kurzem Überlegen beschwörend die Hände über die Menge und bat um absolute Ruhe. Als diese bis auf ein geringes Gemurmel eingetreten war, legte er die Hand an seine rechte Ohrmuschel und die Stirn in krause Falten, um den Lärm, der da von draußen hereinkam, besser hören zu können. "Leute!" rief er dann, "ängstigt euch nicht! Was ihr da hört, ist der Festlärm aus den umliegenden Städten. Sie haben von euch gelernt, wie man Feste feiert - wie man die Trommel dazu schlägt und singt und tanzt, daß es nur so eine Art hat. Ganz sicher feiern sie heute ein besonderes Fest, so daß man den Lärm bis hierher hören kann." "Ja!" riefen die Leute und klatschten sich auf die Schenkel. "Hört nur, wie sie feiern. Sie können's wahrlich noch besser als wir. Hört ihr das ‚Rumbum' ihrer Pauken? Hört ihr, wie ihre Knallfrösche knattern und die Buntfeuer jaulen? Seht nur, wie der Himmel dort am Horizont leuchtet von ihren Freudenfeuern. Kommt - laßt es uns ihnen gleichtun!" Aber da waren auch andere Stimmen. Stimmen, die nur ganz leise zu hören waren, und die zu bedenken gaben, daß der Lärm noch näher komme - ja, daß er schon kurz vor der Stadtmauer sein müsse. Doch wer sie hörte, der wußte auch sogleich eine Antwort darauf. "Man wird uns besuchen kommen mit einem großen Festzug. Aus allen Himmelsrichtungen werden sie kommen, um mit uns zu feiern, zu musizieren, zu tanzen." - "Kommt, laßt sie uns trefflich empfangen. Wir werden unsere Stadt illuminieren, so schön und bunt, wie sie es noch niemals war!" "Bravo!" riefen alle. "Laßt uns ein Fest veranstalten, wie es unsere Stadt noch nie erlebt hat. Die Musikanten sollen spielen, bis die Pauken platzen und die Saiten zerspringen. Süße Mandelplätzchen soll es von den Dächern auf unsere Gäste herniederhageln, wenn sie in unsere Straßen einziehen. Und der Wein soll ihnen in Bächen entgegen- fließen!" "Ja!" rief der Dichter von seinem Podest. "So sollt Ihr es machen! Lauft nur heim in Eure Häuser und bereitet alles vor. Doch mir vergönnt die Ehre, den Gästen vor das Stadttor entgegenzueilen, um sie mit freundlicher Rede zu empfangen." Sprach's - schwang sich vom Podest und lief, so schnell ihn die Füße trugen, die Straße zum Tor hinunter. Nun meine lieben Leser, Ihr ahnt sicher, was dann geschah, denn Ihr seid hoffentlich nicht gar so naiv wie die guten Schlaraffenstädter, die an diesem denkwürdigen Tag noch gewaltig die Hucke voll bekamen. Und da sie nie gelernt hatten, zurückzuhauen, standen sie schon nach kurzer Zeit vor ausgesoffenen Bier- und Weinfässern, vor geplünderten Naschwerkgirlanden und kahlgefressenen Bratspießen. Was allerdings noch viel ärger war - diese ungebetenen Gäste hatten sich gar erdreistet, das prallgefüllte Stadtsäckel samt den ach so herzensguten und freigebigen Magistratsmitgliedern auf ihre Karren zu verladen und sie zu ihrer eigenen Verwendung mit sich zu führen. Epilog: Ich verstehe durchaus Euern Unmut, meine geschätzten Leser, die Ihr Euch nun betrogen fühlt. Eine heitere Geschichte hat einfach nicht so zu enden. Ich muß also tausendmal um Vergebung bitten. |