19.04.2024

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16.11.02 / Unheimliches Erlebnis auf dem Friedhof

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 16. November 2002


Unheimliches Erlebnis auf dem Friedhof
von Hilde Mursa

In der Heiligen Nacht im Jahre 1949 steht ein junger Mann am Grab der Mutter, das Herz voll Trauer und Wehmut. Das Zusammensein in der Familie am Heiligen Abend war ohne Wärme und Herzlichkeit verlaufen. Die zweite Frau des Vaters zeigte wenig Interesse an weihnachtlicher Harmonie, so blieb nur der Weg zum Friedhof, um am Grab der Mutter Trost zu finden. Schwere Gedanken belasten Erichs Sinn. Fast fünf Jahre schon war der ältere Bruder Artur in russischer Gefangenschaft. Siebzehnjährig war er in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges im März 1945 in dem großen Kessel bei Berlin gefangengenommen und nach Sibirien abtransportiert worden. Ein erstes Lebenszeichen, eine Karte mit Rückantwortkarte kam im Jahre 1947. Damit wuchs die Hoffnung, daß es Artur vergönnt sein könnte, Hunger, Kälte, Seuchen und Schwerstarbeit der sowjetischen Gefangenschaft zu überstehen. Von Spätheimkehrern aus Rußland hatte man erfahren, daß, wer bis dahin überlebt hatte, eine wirkliche Chance auf Rückkehr habe. In die traurigen Gedanken kommt mit plötzlicher Helligkeit für Erich die Gewißheit, ja, eine absolute Sicherheit: Artur kommt bald heim, und alles wird gut. Getröstet und voller Zuversicht verläßt er den Friedhof.

Am Morgen des Festtages der Hl. Drei Könige 1950 kommt ein Telegramm aus dem Entlassungslager Ulm, Artur sei bereits in Deutschland und werde in wenigen Stunden zu Hause eintreffen. Dankbar und glücklich, den Sohn und Bruder wieder bei sich zu haben, sitzen am Abend die Familienangehörigen mit Freunden und Nachbarn zusammen. Das Fragen und Erzählen will kein Ende nehmen. Da erzählt auch Erich sein Erlebnis von der Heiligen Nacht auf dem Friedhof. Der Heimkehrer horcht auf, fragt nach der Uhrzeit und erzählt:

Am 24. Dezember, nach einem harten Arbeitstag in sibirischer Kälte, war er hungrig und todmüde ins Lager zurückgekommen. Wegen eines Vergehens, das ihm nicht mal bewußt war, wurde er abkommandiert, zusammen mit zwei anderen Mitgefangenen die Latrinen auszuräumen und zu säubern. Spät in der Nacht war auch diese Arbeit getan, und er konnte endlich seine Schlafstelle, eine Holzpritsche, aufsuchen. Ein Kamerad empfing ihn mit den Worten: "Du sollt dich auf der Wachstube melden!" Was habe ich nun schon wieder verbrochen, ging es durch seinen müden Sinn. Auf der Wache wurde ihm ein Papier ausgehändigt mit dem Befehl, sich sofort am Lagertor zum Abtransport einzufinden. Dort traf er auf eine kleine Gruppe Mitgefangener und, wie üblich, auch Wachposten als Begleiter. Nach schlimmen Erfahrungen mißtrauisch geworden, beriet man sich, ob das nun wieder eine neue Schikane war, oder ob es tatsächlich die jahrelang schmerzlich erhoffte Entlassung und damit die Freiheit bedeutete. Das ausgehändigte Papier war wirklich der Entlassungsschein, den er, wie sich im Gespräch herausstellte, zu der Stunde erhielt, in der Erich vom Grab der Mutter im Odenwalddorf seine Gedanken in die Weiten Rußlands zu dem so sehr vermißten Bruder schickte.