25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
23.11.02 / Der Ring schliesst sich

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. November 2002


Der Ring schliesst sich
von Christel Bethke

Würdest du zum Sterben nach Hause gehen wollen?" Lotte sagt sofort und ohne sich zu bedenken "Ja". Max, der ihr diese Frage stellt, hat die Berechtigung dazu, wenn sie auch gerade von ihm nicht zu erwarten war. Er ist der Bruder ihrer Freundin, zehn Jahre jünger als die beiden Frauen, und als er zur Welt kam, waren beide nicht sehr erfreut. Nun hieß es immer: "Nehmt Mäxchen mit", wenn sie zum Spielen oder sonstwohin wollten. Na, und welches heranwachsende Mädchen wollte das schon. Es kam vor, daß die beiden den Kinderwagen einfach stehen ließen, rechts und links an ihm vorbeigingen und so taten, als ob sie mit dem Gefährt und seinem Insassen nichts zu tun hatten, wenn in der Ferne jemand Bekanntes auftauchte. Wie oft hatten sie später noch darüber gelacht und sich über ihre Naivität gewundert.

Max gehörte der Generation an, die die Gnade der späten Geburt für sich in Anspruch nehmen kann, und hat fast gar keine Erinnerung mehr an damals. Er ist ein ewig gehetzter Zeitgenosse, ständig zwischen Firma und Steuerberater unterwegs, und weil letzterer sein Büro in Lottes Gegend unterhält, lädt Mäxchen sich ab und zu auf eine Tasse Tee ein. "Aber nur eine! Und mach nichts dazu, ich habe gar keine Zeit." I, wo wird Lotte was dazumachen. Reisende Leute soll man nicht aufhalten, weiß sie und stellt nur einige ihrer selbstgebackenen Kekse auf den Tisch. "Schmecken gut, selbstgemacht?" und Lotte: "Ja, wenn du willst, kannst welche mitnehmen." Eilig wird etwas Gebäck eingepackt und schon halb zur Tür raus, kommt diese Frage. Eilige Verabschiedung. Nachwinken vom Balkon, der Geschäftsmann rollt davon.

Lotte räumt den Wein, den der eilige Gast als Geschenk mitgebracht hat - nie wird er das vergessen -, fort und setzt sich noch einmal in ihren alten Stuhl. Sie hat Zeit genug, ja, sie könnte ihm davon sogar was leihen. Und Tee ist auch noch da.

Die Frage geht ihr nicht aus dem Sinn, denn Lotte hat einen Traum, der in die gleiche Richtung geht. Sie würde so gerne ein ganzes Jahr in der Heimat leben wollen. Dort den Reigen der Jahreszeiten erleben, etwas säen, etwas ernten wollen. Der Ring würde sich schließen. Mit welch tiefer Freude würde sie die alten, noch vertrauten Pfade gehen, die schon ihre Urgroßeltern gingen. Ihre Freundin hatte neulich gemeint: "Hier wohne ich, aber zu Hause bin ich dort." Der gleichen Meinung war auch Lotte. Vielleicht hatte sie deshalb noch keine Grabstelle hier, sinniert sie. "Von Erde bist du genommen, zu Erde sollt du wieder werden", wurde damals am offenen Grab gepredigt. Nichts von Verbrennen und anonymer Beerdigung. Wo gab es denn so was! Und natürlich stand der Name auf dem Stein, denn bei dem würde man ja gerufen werden! Wie würdig solch eine Beerdigung damals war, denkt sie, damals, als wir noch zu Hause waren.

"Wer fragt, verdient Antwort", heißt es in dem Gedicht von der Entstehung des Buches Taoteking von Brecht. Leider hat Max keine Zeit für eine Antwort. Sie ist ihm sicherlich auch zu umständlich und zu ausführlich. Manchmal geht Lotte in ein Altenpflegeheim. Sie sieht dort Menschen, die einfach nicht sterben können. Sie ist sicher, kämen sie nach Hause, sie würden gleich friedlich einschlafen können. Ein Beutelchen Erde, das sie einmal für eine verwandte Seele aus der Heimat mitbringen mußte, ist nicht genug.

Wenn Lotte mit ihrem Rad durch die Natur fährt, gibt es Augenblicke, da kein Auto und kein Trecker zu hören und zu sehen sind. Nur sie und die Tiere auf den Weiden. In der Ferne, unter herbstlich gefärbten Büschen und Bäumen, ducken sich einige rote Dächer, die zu einem Gehöft gehören. Erinnerungen werden wach und geben ihrem Traum Nahrung.

Die vielen Reisen in die Heimat hatten das Heimweh nicht stillen können. Als ob Ostpreußen nur aus der Heiligen Linde, der Kruttinna, der Wolfsschanze und dem Dorf der Philipponen bestand! War Station in Danzig, kam noch der Abend in der Kaschubei hinzu mit seinen Tänzen, den gestickten Decken und dem Porzellan. Jedesmal die gleiche Besichtigungstour! Lotte würde am liebsten wie der Engel in der Sorquittener Kirche die Flucht ergreifen. Als ob es da nichts anderes wiederzuerkennen gäbe! Das alles möchte sie noch einmal. Wie das dem Leben Gewicht geben würde und wie erfüllend, zum Ende an den Anfang zurückkehren dürfen!

Lotte wird durch einen Höllenlärm aus ihren Träumen gerissen. Der Mensch, der unten die Grünanlagen zu betreuen hat, hat einen Riesenstaubsauger angeworfen und wirbelt das gefallene Herbstlaub durcheinander und saugt dann jedes einzelne Blatt mit dem Rohr auf. Das wird dauern! Sie denkt an den Strauchbesen, der in der Stallecke stand und mit dem man rhythmisch und still sich in die Natur einfügte.

Schluß mit diesen Betrachtungen! Bei dem Krach kann sie nicht im Hause bleiben. Am besten, sie besucht die Freundin und befragt die.

Thea Weber: Herbst am See (Aquarell, Ausschnitt)

 

Den Toten von Königsberg 1945-1948
von Günter Hagner

Ihr konntet euer Schicksal

nicht ahnen,

ihr Toten von Königsberg,

die Leiden,

die über euch kamen

voll grausamer

Unmenschlichkeit.

Ihr sahet das Sterben

eurer Heimatstadt

und vieler, die dort gefallen,

bis euch selbst

der gnädige Gott

erlöste von euren Qualen.

 

Ihr harrtet aus

in Bangen und Hoffen,

Ihr, die ihr den Sturm

überlebtet.

Doch hat es auch euch

getroffen - das Todesschicksal

und habt doch gebetet.

Nun ruhet

in göttlichem Frieden,

ruhet, wo ihr

sterbend geblieben,

ruhet in der Heimat Erde,

die einst wieder blühen werde.