13.12.2024

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04.01.03 / Fehlende Toleranz zu eigener Geschichte

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. Januar 2003


Fehlende Toleranz zu eigener Geschichte
Unprofessionelle Historiker deuten die Vergangenheit unstimmigerweise aus der Gegenwart heraus

Was ist zu halten von einer Geschichtsversion, die vorrangig Geschichte nicht aus der Zeit begreift, sondern mit Mitteln der späteren zeitkritischen Betrachtung Vorgänge einschätzt, deren Randdaten und erst recht die Summe aller Einzelheiten die Menschen jener Zeit überhaupt nicht kennen konnten. Geschichte kann und muß aus der Zeit begriffen werden, und der Historiker muß sich immer fragen, warum Ereignisse diesen oder jenen Verlauf nahmen. Natürlich haben nachfolgende Generationen das Recht oder die Pflicht, Fragen an die Geschichte zu stellen. In der Beantwortung und Verantwortung ist es aber nicht zulässig, Fakten und Zusammenhänge zu unterschlagen oder zu verschweigen, die der Erklärung dienen, die das Warum beantworten können. Andernfalls wird Geschichte nicht stimmig. Sie wird verbogen und unwahr. Der Historiker, der sie so interpretiert, wird unlauterer Methodik beschuldigt.

Jörg Hillmann und John Zimmermann, beides Bundeswehroffiziere, haben sich dem Thema Kriegsende 1945 zugewandt und ein Werk veröffentlicht, das viele Autoren hat. Diese behandeln das wichtige und anspruchsvolle Thema unter den Aspekten von "offiziellem" Kriegs-ende, "institutionellem" Kriegsende; Kriegsende als "kollektives" Erleben; Kriegsende als "individuelles" Erleben; das "bildliche" Kriegsende; der Tiefpunkt in der deutschen Geschichte.

Mit neuen Workshops "am Puls der Zeit" (dahinter ist der Zeitgeist zu vermuten) sei hier ein Konzept der Geschichtsinterpretation aufgegangen, doch mir scheint es völlig mißraten. Beispielhaft hierfür sei das Thema der Historikerin Kathrin Orth im folgenden besprochen, die sich in Teil III der "Kampfmoral und Einsatzbereitschaft in der Kriegsmarine 1945" widmet.

Wie sehr in der Geschichtsdarstellung die Soziologen Eingang gefunden haben, zeigt die Diktion. Da wird von Gruppenkohäsion statt Kameradschaft gesprochen, und da "scheint es einen alters- bzw. sozialisierungsbedingten Bruch bei dem Marinepersonal zu geben" und Brüche in den einzelnen "Alterskohorten". Kameradschaft ist weit mehr als Gruppenkohäsion, und Sozialisierungsbrüche gab es vermutlich in der kaiserlichen Marine, aber nicht in der Kriegsmarine. "Alterskohorten" sind für mich nicht erkennbar, man müßte das Soziologendeutsch erklären.

Wir werden belehrt, "das Konstrukt der Kameradschaft erwächst nicht nur aus Erlebnissen, die als positiv empfunden wurden. Militärische Gruppenkultur war nach Thomas Kühne in erster Linie Gruppenterror". Der "Heilige Geist" sollte eine "gleichförmige Ausrichtung" "garantieren" und "Abweichler gewaltsam auf Linie" bringen. Sicher gab es den "Heiligen Geist" in der Rekrutenzeit, vielleicht auch später, doch der lag im zwischenmenschlichen Bereich und nicht im Politischen. Das war auch noch so bei der Bundesmarine, wo man doch kaum vom Gruppenterror sprechen kann.

Es darf bei der heutigen Generation von Historikern natürlich nicht fehlen, daß "Massenerschießungen und Judenverfolgungen" thematisiert werden. Obschon Kathrin Orth feststellt, daß die NSDAP und das politische Gespräch kaum eine Rolle spielten, schließe dies die "mögliche Kenntnis und Befürwortung von Massenerschießungen und Judenverfolgungen nicht aus". Auch fehlt nicht der Hinweis, daß Dönitz "mit dem monatelangen Hinhalten von Ziviltransporten zugunsten kriegsverlängernder Maßnahmen wie des Transports von Treibstoff, Kohle, Waffen und Soldaten die Rettung der Flüchtlinge verzögerte und die Weiterführung des Krieges nach Hitlers Selbstmord für Tausende Zivilisten und Soldaten an anderer Stelle den sinnlosen Tod bedeutete". Daß Dönitz gehandelt hat, wie er mußte und konnte, und seinen lokalen Unterführern dabei weitgehend freie Hand ließ, wird dabei übersehen. Übersehen wird auch die Tatsache, daß von der hier so geschmähten Versorgung ja auch die Kampf- kraft der Truppe abhing und die Schiffe ohnehin nach Osten damp-fen mußten, ehe sie mit der Last der Flüchtlinge oder leer hätten zurück müssen.

Ob es Alternativen gab, ob sie erkennbar waren, vermag ich nicht zu entscheiden. Es ist jedenfalls schnöde zu behaupten, es sei alles ganz anders gewesen und Dönitz habe anders handeln können. Dann hätte man auch feststellen können, daß die ganze Ostfront früher hätte zusammenbrechen sollen - ohne die Rettung von Millionen über See. Daß dies erst recht mit millionenhaftem Leid für Flüchtlinge und Soldaten verbunden gewesen wäre, darüber macht sich Kathrin Orth keine Gedanken.

Nein, es ist das beckmesserische Prinzip der fehlenden Toleranz im Umgang mit der eigenen Geschichte, was mich so betroffen macht. Es scheinen die Besserwisser Oberhand zu gewinnen, die es immer hinterher schon wußten, wie es hätte gemacht werden müssen.

Ohne jede Frage fehlt Kathrin Orth bei der Betrachtung des Widerstandswillens in der deutschen Kriegsmarine ein Hauptmotiv, das die Marinesoldaten - und nicht nur die - zum Durchhalten befähigte: Daß die Alliierten mit dem Mor-genthauplan ganz bewußt Deutschland niedermachen und dem Reich die Lebensgrundlagen entziehen wollten. Darüber hinaus war jedem Einsichtigen klar, der deutsche Kulturgüter und Städte im gnadenlosen Bombenterror versinken sah, was von den Alliierten zu erwarten war. Die bedingungslose Kapitulation war dabei nur die eine Seite der Medaille. Hans-Otto Ebner

Jörg Hillmann und John Zimmermann (Hrsg.): "Kriegsende 1945 in Deutschland", Oldenbourg Verlag, München 2002, gebunden, 335 Seiten, 34,90 Euro