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04.01.03 / Eine Preussin aus China

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. Januar 2003


Eine Preussin aus China

Mei-ling Soong Chiang, die Witwe des ehemaligen nationalchinesischen Präsidenten Chiang Kai-shek, ist heute 106 Jahre alt. Carla Wiechert-Steenberg erzählt aus dem Leben dieser ungewöhnlichen Frau

Drei Monate lang waren mein Mann, Sven Steenberg, und ich Gast der chinesischen Regierung auf Taiwan, um Material zu sammeln für unsere Wlassow-Biographie ("Wlassow, Verräter oder Patriot"). Der russische General war nach dem Abzug der deutschen Militärberater bei Chiang Kai-shek Leiter der russischen Delegation, die als Ablösung der deutschen 1938 folgte. Zu Wlassows damaligem chinesischen Dolmetscher, nun Abgeordneter in der Gesetzgebenden Versammlung, hatten wir Verbindung aufnehmen können - es folgte ein lebhafter Briefwechsel, und Anfang 1956 saßen wir auf einem Schiff des Lloyd Triestino und fuhren unserem "chinesischen Abenteuer" entgegen, das mein journalistisches Leben grundlegend verändern sollte.

Gegen Ende unseres Aufenthaltes in Taipeh ging in Erfüllung, worauf wir gehofft hatten: Privataudienz beim Präsidenten und Madame, wie Frau Chiang auf internationalem Parkett genannt wird. Tee-Einladung, 16 Uhr in der Residenz. Ich zitiere aus meinem Reisetagebuch:

4. Januar 1957: Wenn ein Mensch mit Bildung, Esprit, Charme und Eleganz vom Himmel reich beschenkt ist und vor allem zunächst der Charme auffällt, muß der erste Eindruck überwältigend sein. Man hatte mir viel erzählt, ich hatte über sie und von ihr gelesen, aber alle meine Erwartungen wurden übertroffen. Eine Erfahrung, die ich wohl mit vielen anderen teile. Mit dieser Frau gab es zur Begrüßung natürlich nicht das höflich-unverbindliche Geplauder, wie man es sonst aus Begegnungen von Unbekannt mit Unbekannt kennt. "Ist Westdeutschland Ihre Heimat?" war ihre erste Frage. "Nein? Ostpreußen - aus dem russischen oder polnischen Gebiet? In Königsberg die Schule besucht? Im Schatten Kants sozusagen. Wissen Sie, wie Kant auf chinesisch heißt? In China heißt er Kan De - ,Gesunde Tugend', wie wir auch Deutschland ,Land der Tugend' nennen." Meine Überraschung ist nicht gering. Ich habe meine in Gedanken vorbereiteten Fragen an die First Lady vergessen und überlege gerade noch - müßte man nicht danken - stellvertretend für uns alle für soviel Ehrerweisung? Aber da führt Madame schon ihren Gedanken weiter: "Ja, wir hatten große Männer aus Ihrem Land bei uns in China, wahre Vertreter der großen preußischen Tugenden. Kennen Sie General von Falkenhausen? Er lebt noch, bitte grüßen Sie ihn! Auch Stennes und vor allem General von Seeckt war uns ein guter Freund." Sie erinnert sich an die Namen der deutschen Militärberater. Ich sage und frage: "Aber auch wir waren Kolonialherren in China. Wie erklären Sie, daß wir - wo immer wir Ihren Landsleuten begegnen, ein so liebenswürdiges, ja warmherziges Entgegenkommen erleben?" Madame - herzlich lachend: "Ja, eben die guten alten preußischen Tugenden sind's, die wir so schätzen: Toleranz, Zuverlässigkeit, Treue, Pünktlichkeit und Ordnung, das haben Deutsche uns doch immer wieder bewiesen, und nicht nur uns - gehen Sie nach Südafrika, fragen Sie in Kanada, den Staaten, wo Hunderttausende ausgewanderter Deutscher leben. Und was China betrifft: fragen Sie Elisabeth Redelstein, eine treue Freundin unseres Hauses, sie kann Ihnen bestätigen, was ich sage."

Besuch bei Elisabeth Redelstein aus Ochsenhausen in Württemberg, nun Leiterin des Methodisten-Krankenhauses in Taipeh (aus meinen Tagebuch- und Tonbandnotizen). Schwester Redelstein erzählt: "Es war in den wirren Jahren in Shanghai, wo ich auch ein Missionskrankenhaus leitete. Madame Chiang war meine Patientin und fragte mich eines Tages, ob ich wohl Lust hätte, für einige Monate zu ihr zu kommen, um den Präsidentenhaushalt nach deutschem Vorbild auszurichten - sie nannte das zu meiner Überraschung ,preußische Ordnung' schaffen und das Personal entsprechend schulen. Ich sagte zu, und es wurde ein ganzes Jahr. Ein bedeutsames Jahr für mich, nicht immer leicht, Madame war eine strenge Herrin und verlangte unbedingten Gehorsam von ihrem Personal, aber sie war gerecht und großzügig und erwartete nicht mehr von uns, als sie sich selber immer wieder abverlangt hat.

Außerdem war es die Zeit, in der Chiang Kai-shek die streitenden Warlords besiegte und China einte, es waren dann aber auch die ersten Monate des Kampfes gegen die angreifenden Japaner - nach dem Bürgerkrieg, dem zunehmenden Kampf gegen die Kommunisten, nun der Krieg gegen einen zweiten Feind im eigenen Land. Oft waren wir wochenlang kreuz und quer in den Provinzen unterwegs, der ,Reisehaushalt', wie Madame es nannte, mußte mit, sie begleitete den Präsidenten, wann immer es möglich war. Ich habe oft im selben Quartier, ja einige Male auch in einem Zelt mit ihr gehaust - ich glaube sagen zu können, ich habe sie wirklich kennengelernt: sie war tapfer, mutig, aber auch immer um uns alle besorgt, vor allem um ihren Mann natürlich. Als der Präsident 1936 von rebellierenden Offizieren in Sian gefangengenommen war, ist sie trotz aller Warnungen und wissend, daß auch ihr Leben in Gefahr war, nach Sian geflogen, um mit den Rebellen zu verhandeln und - mit Erfolg; sie kam mit Chiang Kai-shek ins Hauptquartier zurück.

Sie wurde von Neurodermitis geplagt, und ich wußte, daß sie oft litt; fragte ich aber nach ihrem Befinden, kam nur ein kurzes: ,Was ist das schon im Vergleich zu der großen Not unserer Bevölkerung und den Schmerzen unserer Soldaten!' Sie ist eine große Persönlichkeit. Der amerikanische General Wedemeyer nannte sie einmal die ,Preußin Chinas'."

Wieder eine "chinesisch-preußische Überraschung" für mich, und mir fiel ein, daß man im Deutschland dieser Nachkriegsjahre seltener über "preußische Tugenden" spricht. So weit mein Tagebuch.

Sieben Jahre später.

Und schon wieder eine "chinesisch-preußische Überraschung": Großer Empfang des Diplomatischen Korps und der ausländischen Journalisten in der Residenz. Anlaß ist der "Doppelzehnte", zur Erinnerung an die Revolution am 10. Oktober 1911, mit der Dr. Sun Yat-sen das letzte chinesische Kaiserhaus stürzte und China zur ersten Republik Asiens ausrief.

Wir wurden in Vierergrüppchen eingeteilt, ein "Haushofmeister" führte mich zur letzten Gruppe, für die dann der Präsident und die First Lady Zeit haben würden zu einem längeren Gespräch. Wir saßen im "Wartestand" auf hohen, alten chinesischen Stühlen und tranken Tee, bis wir gebeten wurden, unsere Plätze zu wechseln, ich von Madame liebenswürdig aufgefordert, neben ihr Platz zu nehmen. Nach einer eindrucksvollen Militärparade am Vormittag hatte ich bereits am großen Defilee der Ehrengäste im Regierungspalast teilnehmen dürfen. Darum gab es jetzt auch wieder keine langen Höflichkeitsfloskeln, Madame fragte spontan: "Mrs. Steenberg, wo ist es Ihnen angenehmer - auf den alten chinesischen Stühlen oder hier auf den bequemen westlichen Fauteuils zu sitzen?" Als ich sagte, ich säße gern auf den harten geraden Stühlen, weil man nicht so schnell ermüdet wie in bequemen weichen Polstersesseln, kam der verblüffende Satz: "Ach ja, ich vergaß, die Preußentochter! Ich habe Sie heute während der Parade beobachtet - mit Ihrem schweren Tonbandgerät und den Kameras -, ja, ich denke, wir müssen unseren Vätern dankbar sein für die strenge Erziehung, mit der sie uns vorbereitet haben auf diese große Aufgabe, die man das Leben nennt."

So weit die dritte Überraschung. Madame signierte mir einen Band ihrer gesammelten Reden und lud mich ein, sie am nächsten Vormittag in ihr Heim für behinderte Kinder zu begleiten, wo wir von einer großen fröhlichen Schar stürmisch begrüßt wurden. Glücklich zeigten die Kinder neues Spielzeug, Gehhilfen, Sehhilfen und Hörgeräte, die gerade als Spenden eingetroffen waren. Mir schenkte Madame noch zwei weitere Bände ihrer "Speeches": Reden, Vorträge und Rundfunkansprachen, die sie im eigenen Land, aber vor allem während ihrer ausgedehnten Amerikareisen - sozusagen als Botschafterin des Freien China - im Laufe der Jahre gehalten hat; politische Reden zum Kampf gegen den Kommunismus, aber vor allem über ihre Lieblingsthemen: Erziehung der Jugend und Lösung der Frau aus ihren traditionellen Bindungen.

Wer ist diese Frau, woher kommt sie, was hat sie so geformt, daß sie uns immer wieder verblüfft durch ihr umfassendes Wissen, ihre Weltgewandtheit, ihr rastloses Wirken, das zu einer höchst beachtlichen Lebensleistung geführt hat?

1896 in einer einflußreichen Unternehmerfamilie in Shanghai geboren, ihr Vater ist einer der wenigen Chinesen jener Zeit, der bereits eine höhere Bildung in den Vereinigten Staaten genossen hat, praktizierender Christ, Angehöriger der Methodistenkirche, der seine drei Töchter und einen Sohn streng, aber weltoffen im christlichen Glauben erzieht.

Ihre älteste Schwester heiratet einen erfolgreichen Shanghaier Bankier - der als Kriegsgewinnler in der Presse im In- und Ausland angegriffen wird, nach Amerika auswandert und dort den Grundstein legt zu ihrem Familiensitz auf Long Island, wo dann auch Madame einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes (5. April 1975) lebt, bis sie eine eigene Wohnung in der City bezieht und dort heute noch wohnt. Ihre zweite Schwester, Soong Ching-ling, heiratet Dr. Sun Yat-sen und gerät zum großen Kummer der Familie später ganz ins Fahrwasser der Kommunisten, bringt es sogar zur stellvertretenden Staatspräsidentin in der Ära Mao Tse-tung. "Die politische Teilung Chinas geht mitten durch unsere Familie", sagt Madame bekümmert in einem Gespräch.

Mei-ling studiert an amerikanischen Colleges Sprachen, Geschichte und Philosophie, hat aber Sitten und Bräuche ihres Volkes nie aufgegeben, im Gegenteil, sie als kostbaren Schatz gehütet und gepflegt. Bei berühmten Malern lernt sie die traditionelle chinesische Malerei und Kalligraphie mit sichtbarem Erfolg, ihre Bilder sind bekannt. Am 1. Dezember 1927 heiratet sie den 15 Jahre älteren Chiang Kai-shek, den sie fünf Jahre zuvor im Hause Sun Yat-sens und ihrer Schwester Ching-ling kennengelernt hatte. Mei-ling und ihre Familie bestehen auf einer kirchlichen Trauung; unter dem Einfluß seiner Frau läßt sich auch Chiang Kai-shek, der aus buddhistischer Familie kommt, einige Jahre später christlich taufen.

Sie verhandelt im Namen des Präsidenten mit dem Ausland und tritt zusammen mit ihm auf der Konferenz der Alliierten in Kairo auf. Rund um den Globus wird ihr Name bekannt, mehrere amerikanische Universitäten verleihen ihr einen Dr. honoris causa.

Ihrer Position, aber auch ihrer dynamischen Einsatzfreudigkeit und ihrem Ideenreichtum verdanken zahllose Sozial- und Bildungseinrichtungen ihre Existenz, und die meisten bestehen noch heute. Zu erwähnen sind besonders die 1934 gegründete Bewegung "Neues Leben", in der sie u. a. die Frauen Chinas auffordert, sich für Notleidende, kranke und behinderte Kinder, später für Kriegswaisen und Witwen einzusetzen, oder die am 17. April 1950 gegründete Nationale Frauenliga, die innerhalb weniger Monate 250.000 Mitglieder zählt. Die Mitglieder der Frauenliga zahlen Beiträge, organisieren Basare zum christlichen Weihnachtsfest und chinesischen Neujahr, Spendenaufrufe der First Lady in Rundfunk und Fernsehen füllen die Kassen für alle diese Aktivitäten. Ebenfalls 1950 gründete sie eine Frauengebetsgruppe, die inzwischen 1.000 Untergruppen auf der Insel hat. Einmal wöchentlich kommt man zusammen, Thema und Gebete bestimmte Madame, solange sie in Taiwan lebte, heute hat die Frauenliga in Vertretung von Madame Chiang, geführt von Dr. Cecilia Y. Koo, die Aufgabe übernommen.

Die Alten lehren uns", schreibt Soong Mei-ling Chiang in einem ihrer Vorträge, "eine Dame zeichne sich durch folgende Tugenden und Fähigkeiten aus: keusch und sittlich im Denken und Betragen, diskret in ihrer Rede, gepflegt in ihrem Äußeren und ihrer Haltung und fähig, einen Haushalt zu führen. Das gilt natürlich auch noch heute, nur müssen wir dem neue Akzente hinzufügen, unserer modernen Zeit angepaßt, aber Aufrichtigkeit und Treue immer bedingungslos an erste Stelle setzen."

Die Anzahl ihrer politischen Reden in Amerika ist beein- druckend: im Kongreß in Washington, National Press Club Washington, Executive Club Chicago, Economic Club of Detroit, US Senate Foreign Relations Committee Washington, National War-College Washington, Army War College Carlyle und immer wieder Wellesley und Wesleyan-Macon, um nur einige für viele andere aus den Jahren 1943 bis 1982 zu nennen.