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11.01.03 / Verlorene Jahre / Schülerstreich brachte 14jährige ins Gefängnis

© Das Ostpreußenblatt Ausgabe / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 11. Januar 2003


Verlorene Jahre / Schülerstreich brachte 14jährige ins Gefängnis

Wer ganz böse Dinge tut, kommt ins Gefängnis, dies lernt man schon als kleines Kind. Zu den ganz bösen Dingen zählen Mord, Diebstahl und Betrug. Daß da allerdings auch der Schulstreich einer 14jährigen dazugehört, hätte sich Erika Riemann nie träumen lassen. Gleich an ihrem ersten Schultag in Thüringen nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 malte sie zum Spaß mit Lippenstift eine Schleife an den Bart des Stalinportraits, das in ihrem neuen Klassenraum anstelle des Hitlerbildes frisch aufgehängt worden war. Als man sie kurz darauf verhaftete, empfand der junge Backfisch die Verhöre als ein amüsantes Abenteuer, doch spätestens als man sie zu zehn Jahren Haft verurteilte, fiel sie aus allen Wolken. Nein, mit der Bewegung Wehrwolf hatte sie nichts zu tun, es war alles nur Spaß, den allerdings verstanden die sowjetischen Besatzer Mitteldeutschlands nicht.

Über ihre acht Jahre Haft in verschiedenen mitteldeutschen Gefängnissen und die Jahre danach hat Erika Riemann nun ein Buch geschrieben, das der anerkannte Verlag Hoffmann und Campe verlegt und das ihr sogar mehrere Fern- sehauftritte verschaffte. Mit den Worten "Ein oft vergessenes Kapitel deutscher Geschichte" begrüßte sie beispielsweise Johannes B. Kerner in seiner Sendung.

Mit soviel Interesse an ihrer Geschichte hat die heute 72jährige nicht gerechnet. Eigentlich hatte sie doch nur ihre Erinnerung für ihre Kinder auf lose Zettel geschrieben, irgendwie wurde dann aus dem ganzen Blätterwust ein richtiges Buch.

Während der Lektüre fragt sich der Leser allerdings, wie eine Frau, die von ihrem 15. bis zum 24. Lebensjahr in Lagern wie Bautzen, Sachsenhausen und Hoheneck inhaftiert war, so anrührend, schok- kierend und literarisch ansprechend schreiben kann. Erika Riemann teilt nicht einfach nur ihre Lebensgeschichte mit, sie tut es auf eine Art und Weise, die den Leser in ihren Bann zieht. Faszinierend ist zudem ihre schonungslose Aufrichtigkeit, mit der sie selbst ihre eigenen Schwächen nicht verschweigt.

Aus der Haft entlassen und in den Westen herübergewechselt, war ihr erstes Ziel, einen Mann zu finden und zu heiraten. Sie wollte nicht als alte Jungfer enden. Sie fühlte sich schäbig und wertlos und kam mit der Gegenwart nicht zurecht. Das trotzige Kind hatte die Haft, die Folter, den Hunger, die Stumpfsinnigkeit der Gefängnisjahre überstanden, die junge Frau in Freiheit hingegen fand sich in dieser nach acht Jahren Inhaftierung nicht zurecht. Weltfremd und verstört versuchte sie ihren Weg zu finden, war allerdings mit ihren Ängsten ganz allein. Keiner wollte von ihrer Geschichte hören, denn diese paßte nicht in die Wirtschaftswunderjahre im Westen.

Heute, Jahrzehnte nach ihrer willkürlichen Gefangenschaft, unzähligen Jobs, drei Ehen und vielen Irrwegen, hat Erika Riemann sich selbst gefunden. Zwar hat sie aufgrund ihrer vielen Aushilfsjobs nur eine kleine Rente, doch sie weiß sich zu helfen. So wohnt noch ein Untermieter in ihrer Wohnung. Sein Name ist Viktor, er ist Russe und spricht nur die Sprache ihrer einstigen Gefängniswärter und Folterknechte. Dies stört Erika Riemann allerdings nicht. "Viktor ist wunderbar!" sagt die Frau, der Russen wegen einer Nichtigkeit acht Jahre ihres Lebens gestohlen haben. - Ein mitreißendes Buch von einer beeindruckenden Autorin! R. Bellano

Erika Riemann: "Die Schleife an Stalins Bart", Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, gebunden, 254 Seiten, 19,90 Euro