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© Das Ostpreußenblatt Ausgabe / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 11. Januar 2003 |
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Stilles Land von Renate Dopatka Beim Sonntagskaffee hatte Wilhelm die Familie von seinem Reisewunsch in Kenntnis gesetzt. Nun, da ausgesprochen war, was ihm seit Tagen auf der Seele brannte, lehnte er sich erleichtert in den Sessel zurück. Selbst wenn Sohn und Enkel sich nicht dazu entschließen konnten, ihn auf dieser Winterreise zu begleiten - er würde - er würde fahren! Mit dem Zug, mit dem Bus - wie auch immer! Seit seiner Pensionierung hatte er von dieser Reise geträumt. Doch stets war etwas dazwischengekommen: zuerst der Schlaganfall, der ihn für Monate außer Gefecht setzte, und dann, als es mit ihm endlich wieder bergauf ging, hatte sich die Krankheit seiner Frau angekündigt. Er liebte Lore, und so war es für ihn eine Selbstverständlichkeit gewesen, ihre Pflege zu übernehmen. Der schleichende Verfall ihres Körpers hatte sich über Jahre hingezogen, und ihr Tod vor drei Monaten war in jeder Hinsicht Erlösung gewesen. Die Wochen verstrichen ... Der Winter klopfte an, schon fiel der erste Schnee und plötzlich ließ sich die Sehnsucht nicht länger unterdrücken. Auch damals beim Abschied vom Elternhaus war es tiefer Winter gewesen. Eine unheilschwangere Stille hatte über dem Land gelegen, das wie ausgestorben schien. Dunkel ragten Stallungen und Gebäude aus der endlosen Schnee-Einsamkeit auf, und als wäre es erst gestern gewesen, erinnerte sich Wilhelm des ziehenden Schmerzes, den er bei diesem Anblick verspürt hatte ... Ja, er würde fahren! Es war ihm ein Bedürfnis, die Heimat wiederzusehen. Ein Bedürfnis, dem Sohn und Schwiegertochter eher ablehnend gegenüberstanden. "Winter ...!" Gereizt starrte Hartmut seinen Vater an. Eine Reise in die Vergangenheit, gut und schön - mochte er sich diesen langgehegten Wunsch erfüllen! Aber warum nicht bis zum Sommer warten? Wenn die Straßen in einigermaßen gutem Zustand waren und man auf dem Lande nicht ständig Gefahr lief, je nach Wetterlage, entweder in Schlamm und Morast oder aber in meter-hohen Schneewehen zu versin- ken ...? "Also wirklich, Vater, ich versteh' dich nicht." Schwiegertochter Ulla stellte mit hartem Ruck ihre Kaffeetasse ab. "Wozu die Eile? Fühlst du dich krank? Glaubst du, den Sommer nicht mehr zu erleben?" - "Ach, Mama, darum geht's doch gar nicht!" mischte sich Oliver ein. "Opa hat ganz einfach den Wunsch, sein Elternhaus wiederzusehen, wie er es damals verlassen hat: dick verschneit, bei ordentlichen Minusgraden. Dasselbe Motiv, dieselbe Stimmung. Der Film setzt da wieder ein, wo er einmal gerissen ist." "So ein Quatsch! Der Film ist gerissen!" funkelte Hartmut seinen Sohn an. "Ich habe ja nichts dagegen, daß du ständig mit der Kamera durch die Gegend rennst, solange du dein Studium dabei nicht vernachlässigst. Aber was damals passiert ist, das läßt sich doch nicht mit einem Filmriß vergleichen!" "Warum nicht?" brummte Wilhelm vor sich hin. "Ich finde, der Junge hat recht. - Fragt sich bloß, ob ich mit euch rechnen kann, wenn es heißt, den neuen ‚Film' einzulegen ...?" Er konnte mit ihnen rechnen. Während Oliver in dieser Reise eine gute Gelegenheit sah, die Aura einer ihm bislang unbekannten Landschaft mit der Kamera einzufangen, fühlte Hartmut sich in die Pflicht genommen. Ihn interessierten weder Land noch Leute. Seine Zusage, den Vater auf dieser Fahrt zu begleiten, entsprang einzig und allein der Sorge, sich Vorwürde machen zu müssen, falls dem alten Mann unterwegs etwas zustoßen sollte. Obwohl es nicht gerade die Beweggründe waren, die er sich erhofft hatte, nahm Wilhelm die Entscheidung der beiden mit Dankbarkeit auf. Daß seine Nachkommen so wenig Neigung zeigten, der eigenen Geschichte, den eigenen Wurzeln nachzuspüren, stimmte ihn zwar ein bißchen traurig, änderte aber nichts an seinem Reisefieber. Aufgeregt wie ein Jüngling, der den Eltern seine Liebste vorstellt, so forschte denn auch Wilhelm ängstlich-besorgt in den Gesichtern von Sohn und Enkel, welchen Eindruck denn nun jenes Fleckchen Erde auf sie machte, das seinem eigenen Herzen so lieb und teuer war. Er selbst fand alles unverändert: da war die Weite, da war der unendlich hohe Himmel, die Stille und die Einsamkeit schneebedeckter Felder. Freilich gab es Dinge, die die Wiedersehensfreude trübten. Die abgesägten Linden vorm Elternhaus, der Verfall seiner alten Schule, der Brunnen, an dem er einst das Vieh getränkt hatte und der nun dem Erdboden gleichgemacht worden war - all das verursachte ihm einen fast körperlichen Schmerz. Doch wann immer es ihm eng in der Brust wurde, wandte er sich ab, schaute in die Ferne und sog die unvergleichlich klare Luft seiner Kindheit ein. Nein, er bereute es keine Sekunde, wieder heimatlichen Boden unter den Füßen zu haben. Und wenn er sich von der Illusion, Sohn und Enkel könnten seine Empfindungen teilen, auch längst verabschiedet hatte, so freute es ihn doch, wenn er Oliver mit gezück-tem Fotoapparat über zugewehte Gräben springen sah, nur um einen halb verrotteten, windschiefen Lattenzaun vor dem Hintergrund eines von der unter- gehenden Sonne rötlich angehauchten, menschenleeren Schnee- feldes abzulichten. Abends, im Hotel, streckte Wilhelm dann vorsichtig die "Fühler" aus: "Na, mein Junge, wie viele Stimmungsbilder hast du denn schon im Kasten? Die viele Knipserei - das ist wohl so 'ne Art Jagdfieber, was ...?" - "Infiziert bin ich auf jeden Fall!", erwiderte Oliver lachend, um dann ganz ernst zu werden: "Weißt du, Opa, diese Stille hier - das ist schon phänomenal ...! Dabei hat sie absolut nichts Ehrfurchtgebietendes, Dramatisches an sich. Im Hochgebirge zum Beispiel, wenn du oben im Fels hängst - oder auf einer Gletschertour: da spürt du eine Lautlosigkeit, die ist so intensiv, so beklemmend, daß du es manchmal mit der Angst zu tun bekommst. - Wie soll ich sagen - sie ist einfach Balsam für die Seele ..." Balsam für die Seele. - Das waren auch die Worte seines Enkels für Wilhelm. Noch mehr freute er sich jedoch über das, was ihm Hartmut auf der Rückfahrt zu sagen hatte. Kurz hinter der Grenze, nachdem ihn Oliver am Steuer des Autos abgelöst hatte, wandte Hartmut den Kopf nach seinem Vater, der behaglich mit dem Proviantbeutel auf der Rückbank saß und das Gewesene in Gedanken noch einmal Revue passieren ließ. "Schön, daß alles so gut gelaufen ist, nicht wahr? Wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können ..." Hartmut verstummte, um dann mit einem etwas verlegenen Lächeln fortzufahren: "War schon richtig, daß du mich zu dieser Fahrt überredet hast. Irgendwie scheint es ja ein ganz besonderes Land zu sein, dieses Ostpreußen ..." Sein Lächeln vertiefte sich. "Kein schlechter Platz, den sich unsere Vorfahren da ausgesucht haben ..." Wilhelm schluckte trocken. Einen solchen Satz aus dem Munde seines wenig begeisterungsfähigen Sohnes zu vernehmen - das schien ihm doch ein gutes Ergebnis dieser Reise zu sein ... |