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25.01.03 / Der karolingische Kern Europas

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 25. Januar 2003


Der karolingische Kern Europas
Jürgen Liminski zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags

De Gaulle hatte Großes vor. Er sah früh die Gefahr aus dem Osten, kannte aus eigenem Erleben die Dominanz der Angelsachsen bei den Alliierten und wollte dennoch ein unabhängiges Europa. Die einzige Alternative war ein enges Bündnis der karolingischen Kernstaaten Frankreich und Deutschland. Seinen mißtrauischen Landsleuten sagte der General: "Die Deutschen werden immer in Europa bleiben, die Amerikaner nur vielleicht." Den weltpolitisch mutlosen Nachbarn rief er vom Balkon des Bonner Rathauses zu: "Ihr seid ein großes Volk, jawohl, ein großes Volk!" Mit Robert Schumann und Jean Monnet hatte der Visionär Mitstreiter, die sich auch auf das Tagesgeschäft verstanden, mit Konrad Adenauer einen kongenialen Freund und Partner. Der Kanzler sprach inhaltsschwer von der "Schicksalsgemeinschaft". Sie habe die jahrhundertealte Erbfeindschaft zwischen den beiden Völkern beendet und sie sei grundlegend für Europas Zukunft.

Das ist der Kontext. Der deutsch-französische Vertrag zog einen Schlußstrich unter die Vergangenheit und öffnete eine Perspektive für eine gemeinsame Zukunft in Europa. Es ist bezeichnend, daß in dem Vertrag keine Klausel zu finden ist für seine Auflösung. Die vor vierzig Jahren feierlich im Élysée-Palast besiegelte Freundschaft soll kein Ende haben. Es ist auch bezeichnend, daß der Vertrag so weit und umfassend gestaltet ist, daß die vergangenen vier Jahrzehnte ihn keineswegs ausgeschöpft haben. Die Nachfolger de Gaulles und Adenauers fanden immer neue Möglichkeiten, im kulturellen, im sozialen, im sicherheitspolitischen Bereich. Er war und ist die Quelle von Jugendaustausch, von Kommissionen, Ministergremien, regelmäßigen gemeinsamen Kabinettsrunden. Er ist Vorbild für andere Völkerverständigungen, etwa die deutsch-polnische.

Aber de Gaulle sah noch weiter. Der Visionär von Colombey-les-Eglises erwog mit Adenauer, den er als einzigen deutschen Politiker auf seinen Landsitz einlud, sogar die Idee einer Konföderation der karolingischen Kernstaaten. Aber Adenauers Kräfte reichten nicht mehr. Er trat noch im Herbst desselben Jahres der Unterschrift unter den Vertrag als Kanzler zurück. Sein Nachfolger Ludwig Erhard konnte mit dem Angebot des Generals, auch die Verfügungsgewalt über die Force de Frappe zu teilen, mithin Deutschland gekoppelt an Frankreich sozusagen in die Tafelrunde der Atommächte aufzunehmen, nichts anfangen. Er fürchtete die amerikanische Reaktion - schon die Reaktion Kennedys auf den Élysée-Vertrag war ungehalten, der Unmut in den Reihen der Atlantiker zu Hause längst nicht abgeebbt - und lehnte das mündlich offerierte und von seinem Berater und Biograph Osterheld beschriebene Angebot ab.

Seither geht es mit dem Vertrag voran im Stil der Echternacher Prozession. Erhard versteht de Gaulle und seine Vision nicht, unter Willy Brandt und Pompidou fällt das Werk trotz aller Lobesworte (entente elementaire, Kernbündnis für Europa) in einen Tiefschlaf, Männer wie Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt nutzen die wirtschaftspolitischen Komponenten und Perspektiven des Vertrags, schaffen die Währungsschlange, den Vorläufer des Euro, Kohl und Mitterrand beleben den Vertrag, indem sie die sicherheitspolitischen Komponenten ausbauen und noch einmal vor dem Knochenhaus bei Verdun Hand in Hand grenzübergreifend historische Emotionen bewegen.

Die Wiedervereinigung bringt die erste, ernsthafte Zerreißprobe. Das alte Mißtrauen vor Deutschland als "imperiale Demokratie", wie der einflußreiche Historiker und Publizist Alain Minc es höflich umschrieb, erwachte. Mitterrand versuchte die Einheit sogar zu verhindern. Die gewaltlose Revolution in Mitteleuropa warf Fragen auf, die die gewohnte Grandeur berührten. Plötzlich schien Frankreich auf sein Normalmaß geschrumpft zu sein.

Eine hektische Reisediplomatie begann. Aber der Vertrag hatte schon tiefe Wurzeln geschlagen, die deutsch-französische Freundschaft war den Völkern schon so zu einer Selbstverständlichkeit geworden, daß das Mißtrauen in der classe politique von Paris fremd anmutete. Sämtliche Umfragen ergaben ein deutliches "Oui" für die Wiedervereinigung der Deutschen. Auch aus der Wirtschaft wurden Stimmen laut, die die antideutsche Politik des Elysée scharf als obsolet und unrealistisch verurteilten. Sehr viel realistischer sei die Haltung Washingtons. Und man rechnete dem Präsidenten vor, daß die Modernisierung und Reparaturarbeiten die deutsche Wirtschaftskraft - sprich die Konkurrenz - auf Jahrzehnte hinaus binden und erschöpfen würden. Die Neinsager-Politik führe ins Abseits, das Mitmachen eröffne mehr Gestaltungs- und Wirtschaftsräume in Osteuropa. Die neue Devise heiße: Lieber zusammen mit den zahlenden Deutschen als gegen sie und gegen die Geschichte. Außerdem: Ohne die Deutschen könne man in Europa nichts bewegen.

Kohl verstand seinen Freund Mitterrand. Er beherzigte wohl auch, was Stendhal in seinem historischen Roman "Die Kartause von Parma" in einem Kapitel über die Schlacht von Waterloo über seine Landsleute schrieb: "Zu den Franzosen darf man, sobald es ihre Eitelkeit verletzt, nicht mehr die Wahrheit sagen." Kohl pries die Vorzüge für Europa und für die Freiheit des alten Kontinents. Mitterrand willigte ein, wandelte sich dann aber in seinen letzten Jahren zur Kassandra. Immer wieder warnte er vor einem Aufflammen des Nationalismus. Die Wiedervereinigung wurde nicht zum modernen Waterloo der Franzosen, aber die neue Lage zwang auch sie zum Um- und Weiterdenken des Vertrags.

Chirac gelang es, dieses Denken in Worte zu fassen. Er tat es bezeichnenderweise in Berlin, im neuen Reichstag. Chiracs Rede vor dem Bundestag im Juni 2000 wurde landauf landab als historisch gewürdigt. Sie war es nicht nur für Europa. Mehr noch war sie es für Frankreich selbst. Denn für die Franzosen bedeutet der Vorrang, den Chirac in Berlin dem Prinzip der Subsidiarität einräumte, eine geschichtliche Zäsur. Wer die Subsidiarität als Gestaltungsprinzip des künftigen Europa ansieht, der nimmt Abschied von einem anderen Prinzip, dem des Zentralismus. Frankreich gibt den Zentralismus nach und nach auf und vertraut sich einem geeinten Europa an.

Wie, ob als Primus inter pares oder auch als Gleicher unter Gleichen - man hat in Paris erkannt, daß auch auf europäischer Ebene die Souveränität der Europäer nicht mehr allein den jeweiligen Nationalstaaten gehört und daß man den Rest an Souveränität am besten im Lande bewahrt, wenn man die Zuständigkeiten zwischen Brüssel, den Hauptstädten und den Regionen genauer regelt. Zum Beispiel mit einer Verfassung, die den Staaten ein Mitspracherecht in europäischen Dingen garantiert. Genau das ist der Fall mit der Doppelspitze, die Chirac und Schröder jetzt dem Konvent vorschlagen. Einen europäischen Präsidenten will Paris nicht. "Es kann kein anderes Europa geben, als das Europa der Staaten", sagte de Gaulle im Mai 1962 auf einer Pressekonferenz. Die Staaten seien die "einzigen gültigen, legitimen und fähigen Elemente, auf denen man Europa bauen kann." Der Nachfolger des Generals, Jacques Chirac, bleibt auf dieser Linie. Der Traum des deutschen Außenministers Fischer von einem mit qualifizierter Mehrheit gewählten Präsidenten Europas ist eine Illusion. Diese Planstelle wird es nicht geben.

Offenbar hat Paris nicht immer gute Erfahrungen mit der Kommission in Brüssel gemacht. Der Brüsseler Zentralismus mit seiner Regelungswut bis hin zur Bananenkrümmung bedroht die Souveränität der Einzelstaaten mehr als die Vorliebe der Germanen für den Föderalismus. Der Realist und Pragmatiker Chirac zog daraus die Konsequenz, daß das Europa der Vaterländer ein Gestaltungsprinzip braucht, das Gewalten teilt und Freiheiten garantiert. Und das ist die Subsidiarität. Sie will er in der künftigen Verfassung verankern. Europa ist zunächst eine Vision und dann eine wirtschaftliche Realität, es fehlt sozusagen das gemeinsame Vaterlandsbewußtsein. Chirac hat kategorisch verneint, daß es einmal so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa geben könnte, er bevorzugt den Begriff Geeinigte Staaten in Europa. Das ist Realismus. Es wird kaum jemals etwas mehr als eine Wirtschaftseinheit, allenfalls einen Verfassungspatriotismus in Europa geben.

Das Gesicht des künftigen Europa, das de Gaulle und Adenauer mit dem Elysée-Vertrag im Sinn hatten, gewinnt Konturen. Zu erkennen ist aber heute auch eine deutlichere Handschrift Frankreichs. Denn Europa ist mit der Doppelspitze einem Staatenbund näher als einem Bundesstaat, wie immer die Macht innerhalb der Staaten verteilt ist. Daß heute außerdem Berlin sich den Vorschlägen aus Paris beugt, hat mit der geschwächten Stellung Deutschlands in der Welt seit einigen Monaten zu tun. Frankreich hat die Führung übernommen. Und das wiederum hat zu tun mit der politischen Qualität des Führungspersonals an der Spitze des Kernbündnisses in Europa. Davon aber war freilich bei den Feierlichkeiten in Versailles nicht die Rede. Man war schließlich unter Freunden.