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25.01.03 / Sehnsucht nach dem Meer

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 25. Januar 2003


Sehnsucht nach dem Meer
von Klaus Weidich

Wie die Wogen eines wildbewegten Meeres, so fluten die Empfindungen an nachdenklichen Tagen über mich hinweg. Und vor salziger Gischt und schäumendem Getobe verwischen die alten Schriftzüge oftmals bis zur Unleserlichkeit. Gottlob ist aber jegliches Geschrie- bene tief in meinem Gedächtnis eingegraben, welches weitere Bemühungen nunmehr erspart ...

Eigentlich sind es nur alte, beschriebene Ansichtskarten und einiges andere gelbliche Papier, welches aber, einer Chronik gleich, von langgelebten Träumen und Sehnsüchten berichtet. Und nicht nur die tiefdunkle Tinte, auch das Geschriebene selbst, wirft zum Schluß tiefdunkle Schatten auf jedes Gemüt. -

Lieber Onkel Karl!

Liebe Grüße sendet Dir heute Deine Nichte Margot! Lieber Onkel Karl, als kleines Trostpflaster für meine übergroße Sehnsucht nach dem Meer hast Du mir ein Buch von Hermann Sudermann geschickt. Ich danke Dir dafür! Wenn Du aber nun glaubst, daß meine Sehnsucht erloschen ist, dann hast Du Dich ganz schön geirrt. Das Gegenteil ist eingetreten. Nun höre ich nachts in meinen Träumen das gleichförmige Rauschen von windzerzaustem Nadelgehölz umso deutlicher. Auf meinen Lippen spüre ich den salzigen Geschmack der Ostsee, und trotz nächtlicher Dunkelheit werden mir die Augen geblendet von der gleißenden Helligkeit gelber Sanddünen. Mutti schüttelt nur immer ihren Kopf und sagt: "Marjell, du wirst noch einmal verrückt in deinem Dassel!" Na, hoffentlich nicht! Ich lache nun mit Dir, lieber Onkel Karl. Margot

Diese Zeilen, liebe Leser, verraten noch nichts Ungewöhnliches oder gar Schlimmes. Sie lassen auch noch nichts ahnen von düsteren Schicksalsmächten, die am Ende dieser Geschichte ihr Unwesen treiben werden. Noch spricht aus den Zeilen der Schreiberin eine gelassene Heiterkeit und ein amüsantes Quantum an Selbstironie. Doch lesen wir weiter:

Liebe Tante Luise!

Denke Dir nur, ich hätte bloß noch zustimmen brauchen, dann wäre endlich mein größter Wunsch in Erfüllung gegangen - dann hätte ich endlich das Meer gesehen. Eine größere Pension an der Samlandküste annoncierte wegen eines Zimmermädchens. Ich befand mich schon im Zustand höchster Euphorie, nur Mutti schaute mich mit merkwürdigen Blicken an. "Willst du mich im Alter nun doch alleine lassen, Marjell?" so fragte sie ...

Liebe Tante Luise, vielleicht geht irgendwann mein Traum doch noch in Erfüllung und ich kann beobachten, wie das Meer die rötliche Glut der Abendsonne zum Erlöschen bringt. Hoch auf den Dünen möchte ich dabei stehen, um auch zu sehen, ob das Meer wirklich kein Ende kennt. Viele Grüße auch an Onkel Karl! Margot.

Vielleicht, liebe Leser, ist das Interesse nun so weit geweckt, daß man nunmehr auch Näheres über die unbekannte Schreiberin wissen möchte. Gut! Heben wir den Schleier ihres Inkognitos etwas an. Ein Foto von ihr liegt nämlich vor mir, hier auf dem Schreibtisch. Große und scheue Augen schauen mir daraus entgegen. Und wohin ich auch meinen Körper wende, diese Augen folgen mir auf wundersame Art und Weise. Schaut man aber genauer in diese großen Augen, dann ist ein gewisses Quantum an Schalk nicht zu übersehen ...

Fern, in jenem lieblichen Kreisstädtchen Gerdauen, in einem kleinen Stübchen, fast mittig in der Kanalstraße gelegen, da hatte jene Schreiberin vor weit über einem halben Jahrhundert von ihrer tiefdunklen Tinte Gebrauch gemacht. Doch lesen wir weiter, was sie noch geschrieben hat. Einige der glühendheißen Sommer- und bitterkalten Wintertage müssen seitdem aber vor ihrem kleinen Fensterchen vorübergezogen sein:

Ihr Lieben! Hier in Ostpreußen geht ein verhaltenes Raunen durch das Land. Jedoch wird niemals ein Gedanke konkret ausgesprochen. Aber auch ohne viele Worte verstehen die Menschen einander, und sie beginnen zu ahnen, wohin die Zeit sie treibt. Ich hoffe jetzt nur, ihr Lieben, daß auch Ihr zwischen den Zeilen lesen könnt! Behüte Gott, daß das Schlimmste niemals passieren wird. Doch wenn ...? Ihr Lieben, ein reserviertes Plätzchen - für Mutti und für mich - würde uns alle von schweren Gedanken befreien.

P.S. Trotz Kummer und Sorgen - meine Sehnsucht nach dem Meer hat immer noch Bestand. Jedoch ich werde mein Hoffen wohl in weiten Fernen plazieren müssen. Eure Margot

Diese, liebe Leser, waren die letzten Zeilen der Schreiberin. Ihr weiteres Schicksal kann man ausschließlich nur noch aus meiner Feder vernehmen. So will ich also berichten, was ich weiß ...

Ganz und gar unrecht hatte die Schreiberin mit ihren letzten Zeilen. Sie brauchte ihr weiteres Hoffen gar nicht in unbekannte Fernen zu plazieren. Die Schreiberin war der Erfüllung ihrer Sehnsucht und dem Meer weitaus näher, als sie zu glauben wagte: Gleich einer unvorstellbaren Apokalypse war der Feind über Ostpreußen hergefallen. Sämtliche Ausfallstraßen Richtung Westen waren übervoll von Mensch und Tier. In kummervoller Stille zog der gewaltige Strom dahin, Stunde für Stunde, Tag für Tag und Wochen für Wochen. Zäh und unerbittlich jedoch folgten die apokalyptischen Kolonnen dem verzagten Menschenstrom. Sie kannten dabei weder Gnade noch Schonung. Für niemanden, weder für Weib noch für Kind ... Irgendwann einmal, da hatten die apokalyptischen Kolonnen dem Menschenstrom jeglichen Fluchtweg versperrt. Und an einem eisigen Februarmorgen sah die Schreiberin der Karten aus Gerdauen zum ersten Mal in ihrem jungen Leben das Meer. Aber ob sie ihre Sehnsucht in jenen kritischen Stunden wirklich gestillt hat? Wohl kaum!

"Leinen los! - Langsame Fahrt ...!" Gottlob, wie das klingt! - Wie das schon nach Rettung klingt! Ade, Gotenhafen! - Ade, geliebtes Ostpreußen! - In einigen Wochen kehren wir zurück ...!

Die Sehnsucht unserer Schreiberin war von eiskalter Substanz, und sie schmeckte so furchtbar salzig. Und wie sahen die Farben der Sehnsucht aus? Sie waren von beängstigendem und glänzenden Dunkel, diese Farben. Und wie abgrundtief sie war, diese Sehnsucht. So unsagbar tief ...

Anmerkung des Verfassers: Kaum waren die Wogen des Meeres über den verwundeten Riesenleib der "Wilhelm-Gustloff" hinweggespült, da spülten auch zeitgleich die Wogen des Schweigens über das unfaßbare Geschehen. Keine Weltöffentlichkeit verschwor sich in Protest. - Nun möge in ferner Zeit eine höchste Instanz darüber zu Gericht sitzen über die Täter und ihre Opfer! - über jene Opfer, zu denen auch die Meinigen gehörten ...

Thea Weber: Eisige Weite (Aquarell)