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15.02.03 / Es fehlen Ideen und Innovation / Ein Blick auf die möglichen Perspektiven der Exklave Königsberg

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. Februar 2003


Es fehlen Ideen und Innovation
Ein Blick auf die möglichen Perspektiven der Exklave Königsberg
von Rudolf Dorner

Mit der bevorstehenden EU-Osterweiterung rückte die Regelung einer beiderseits akzeptablen und praktikablen Lösung einer Landverbindung zwischen Rußland und seiner ostpreußischen Exklave zwangsläufig auf den Verhandlungstisch. Vergleichbar der Trennung Ostpreußens vom Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg durch das von Polen annektierte Westpreußen stellt sich für das Königsberger Gebiet, das zukünftig von EU-Staaten umschlossen sein wird, die "Korridorfrage" - Ironie der Geschichte?

Angesichts eines unerwünschten Schlupflochs im "Schengen-Zaun", also eines Einfallstors für illegale Zuwanderung, Menschen-, Waren- und Waffenschmuggel, organisierte Kriminalität über die beitretenden osteuropäischen Länder Litauen und Polen ist eine verbindliche Regelung des Grenz-, Visa- und Zollregimes dringend geboten.

Erwartungsgemäß brachten die Russen durch den Aufbau einer Drohkulisse die EU zu der von ihnen gewünschten "flexiblen" Haltung. An die Stelle des von ihnen abgelehnten Visums tritt am 1. Juli 2003 ein "Dokument für den erleichterten Transit". Ferner erklärte sich die EU bereit, eine visumfreie Schnellzugverbindung zu prüfen. Auf die Visumpflicht wird vorläufig verzichtet. Litauen soll in eigener Regie Passierscheine ausstellen. Indessen wird diese Regelung dem Hauptbetroffenen, der von den Russen so genannten "Oblast Kaliningrad", keine nennenswerte Erleichterung oder Verbesserung seiner wirtschaftlichen Situation bringen. Geregelte Zufahrtswege zur Exklave sind zwar eine wichtige Voraussetzung für die Versorgung durch das Mutterland, doch wäre sie notfalls auch über den Seeweg möglich.

Entscheidend ist aber die Tatsache, daß die Exklave als selbständiges Wirtschaftsgebiet in keiner Weise existenzfähig ist. Dazu fehlen alle Voraussetzungen: Bedarfsgerechte Verkehrs- und Versorgungsstruktur, ausreichende Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, entwickelte Landwirtschaft, ausgebildete Arbeitskräfte, fachkundige und nichtkorrumpierte Administration und eine am wirtschaftlichen Auf- und Ausbau und zugleich am Gemeinwohl interessierte Bevölkerung. Es fehlt an Ideen, Risikobereitschaft, Schwung und Tatkraft. Vielmehr herrschen Lethargie, Fatalis- mus, Unzufriedenheit und Versorgungsmentalität durch staatliche Subventionen.

Moskau unternimmt wenig Anstrengungen, diesen Zustand durchgreifend zu ändern. Es bleibt meist bei guten Vorsätzen und Absichtserklärungen. Nachdem Königsberg seine gewichtige Stellung als militärischer Vorposten und Stützpunkt der baltischen Flotte der ehemaligen Sowjetunion durch massiven Abbau der Land- und Seestreitkräfte verloren hat, vernachlässigt Rußland zusehends die wirtschaftliche und technische Unterstützung seiner Exklave. Die Folgen sind unverkennbar: stark sinkende Industrieproduktion, vor allem im Konsumgüterbereich, Auszehrung der Landwirtschaft infolge ungenügender Bodenbearbeitung, Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte, Mangel an modernem Maschinenpark, schrumpfende Fischereiwirtschaft, unzureichende oder fehlende Verkehrs- und Kommunikationswege und ausbleibende technologische und ökonomische Modernisierung. Die Wirtschaftsergebnisse liegen daher heute um ein Viertel unter dem ohnehin bescheidenen Durchschnitt des Mutterlandes. Zugenommen haben lediglich Korruption und Kriminalität, die Macht der Mafia sowie die soziale Zerrüttung. Die einst blühende nordöstliche preußische Provinz ist zum Armenhaus geworden, gleichsam ein unverdauter Brocken des gewaltsamen Landraubs und der Vertreibung der angestammten Bevölkerung. Zwar versuchte Rußland, dem Verfall durch Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone im Jahr 1995 entgegenzuwirken, doch waren diese Bemühungen infolge unzureichender Ressourcenzufuhr, bürokratischer Inkompetenz und Ineffizienz sowie mangelhafter Umsetzung nahezu wirkungslos. Angesichts eines derart desolaten Gesamtzustandes und fehlender Rechts- und Planungssicherheit blieben auch die vielversprechenden Appelle und Lockangebote in Form von Steuer- und sonstigen Vergünstigungen für ausländische Investoren ohne Erfolg. Auch die seit 1990 gewährte touristische Bewegungsfreiheit im bis dahin hermetisch abgeschlossenen Militärbezirk trägt nur sehr begrenzt zur Stärkung der Wirtschaft bei. Alle Projekte bleiben weitgehend Wunschdenken.

Zu Optimismus besteht kein Anlaß. Denn zweifellos wird sich das Wohlstands- und Zivilisationsgefälle zu den neuen EU-Mitgliedern Litauen und Polen weiter vergrößern. Wie lange werden die Menschen die von ihnen selbst kaum beeinflußbare Notlage und Isolation ihres Distrikts hinnehmen? Muß Rußland nicht mit Unruhen, Abwanderungsbewegungen, ja mit Separationsbestrebungen rechnen? Es ist durchaus vorstellbar, daß die vergleichsweise geringe und darüber hinaus ethnisch und sozial stark gemischte Bevölkerung sowie Größe und wirtschaftliche Ergiebigkeit aus Moskauer Sicht den Verbleib der Exklave in der Russischen Föderation als nicht mehr so entscheidend erscheinen lassen. Schließlich sah sich Rußland im Zuge der Auflösung der Sowjetunion schon gezwungen, auf viel "wertvollere" Gebiete zu verzichten.

In einer solchen Situation wäre es durchaus vorstellbar, daß polnische Politiker auf die - aus deutscher Sicht absurde - Idee kommen könnten, zur "Arrondierung" des eigenen ostpreußischen Annexionsteils mit den Russen ins Geschäft zu kommen, im Klartext: Moskau das nördliche Ostpreußen abzukaufen. Dies selbstverständlich finanziert von der EU, genauer gesagt von deren Zahlmeister, also dem ehemaligen Eigentümer dieses Territoriums. Als generöse Gegenleistung könnte Polen zum Beispiel günstige Bedingungen für deutsche Bauern zur Rekultivierung von Brachen und Investitionsmöglichkeiten für deutsche Industrie- und Dienstleistungsunternehmen in den unterentwickelten Landesteilen anbieten - honi soit qui mal y pense! Die Mehrzahl der russischen Bevölkerung - zur Zeit rund 950 000 in der Oblast, davon circa 430 000 in der Hauptstadt - würde wahrscheinlich ins Mutterland zurückwandern. Mit dem Rest der verbleibenden Minderheit einer ziemlich gemischten Völkerschaft, darunter angeblich rund 100.000 unangemeldete Umsiedler, wie Aserbaidschaner, Armenier, Tschetschenen und Rußland-Deutsche, käme Polen schon zurecht; schließlich könnte man sie aufgrund der Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU ja zum Umzug in das stets aufnahmebereite Asylparadies Deutschland bewegen. Warschaus Traum eines großpolnischen Reichs fände damit letztlich seine Verwirklichung.

Ganz so einfach wäre dieser Weg für Rußland allerdings nicht. Zwei Gesichtspunkte stehen dem entgegen: das Königsberger Gebiet als geostrategischer Vorposten und der Prestigeverlust des Siegerstaates Sowjetunion bei Aufgabe seiner letzten territorialen Kriegsbeute. Moskau will weder eine Re-Germanisierung oder Polonisierung noch eine Absorption der Exklave durch die EU - müssen da nicht schnöde ökonomische Nützlichkeitserwägungen zurückstehen? Ist es nicht klüger, weiter auf Zeit zu spielen, abzuwarten, bis die EU aus eigenem Interesse, nämlich um der drohenden Gefahr eines Chaos innerhalb ihres Machtbereichs vorzubeugen, der russischen Notstands-Exklave mit großzügiger finanzieller und technischer Unterstützung hilfreich unter die Arme greift? Rußland könnte also sein Pokerspiel - mal mit wohltönenden Worten wie "Brückenfunktion" und "Pilotprojekt für die europäische Zusammenarbeit", mal mit militärischem Säbelrasseln - fortsetzen. Es hätte damit einen Fuß in der EU- und in der NATO-Tür, könnte sich zumindest ein Mitspracherecht in diesen Organisationen sichern.

Die Zukunft Königsbergs bleibt angesichts solcher Szenarien offen, die Frage der Lösbarkeit unbeantwortet. Was aber unvergänglich bleibt, ist Königsbergs stolze, erfüllte 700-jährige preußisch-deutsche Geschichte.