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22.02.03 / Ein hartes Los

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Februar 2003


Ein hartes Los
von Heinz Kurt Kays

Es hat im Gasthof "Preußischer Adler" in Muschaken gelegentlich das gegeben, was im geschraubten Amtsdeutsch als "tätliche Auseinandersetzung" be- zeichnet und als solche hie und da auch juristisch geahndet wurde. Die Bewohner dieses Kirchdorfs im tiefsten Masuren freilich bedienten sich einer mehr drastischen Ausdrucksweise, denn sie redeten in einem solchen Fall von einer Schlägerei oder von Prügeln, die der eine austeilte und der andere einstecken mußte.

Derart unschöne Begebenheiten ereigneten sich zumeist bei festlichen Anlässen, etwa wenn eine Bauernhochzeit begangen wurde, oder die Feier zum Abschluß der jährlichen Ernte. Manchmal geschah das auch, wenn der Schützenverein in der Karnevalszeit einen Mummenschanz veran- staltete. Für all diese Gelegenheiten war der "Preußische Adler" die geeignete, weil einzige Stätte, denn es gab keinen weiteren Krug in Muschaken. Auch zu jeder Art von Versammlung mußte der an die Gaststube angebaute Saal herhalten.

Dem rührigen Besitzer namens Walter Kaminski - wegen seiner eher schmächtigen Statur sowie seines umgänglichen Wesens allgemein nur "Walterchen" geheißen - war das natürlich recht. Denn, wenn der Mensch sich in Gesellschaft befindet, wird schon ganz gern ein Gläschen geleert, und auch ein zweites. Dieses jedoch bedeutete, daß der Umsatz stieg und ebenso der Gewinn. Und auf einen Batzen Geld ist jeder Wirt aus; Walterchen bildete da keine Ausnahme.

Dennoch kamen sie alle immer wieder in den "Preußischen Adler", und das nicht nur zu besonderen Anlässen. Nein, es gab auch regelmäßige Stammtische, an denen die angesehenen Bürger von Muschaken teilnahmen. Ebenso tagten hier die Vorstände der diversen Dorfvereine. Sogar der Kirchenchor hielt seine Gesangsproben im Nebenzimmer des Lokals ab. Sie alle waren Walter Kaminski, dem Wirt, jederzeit willkommen und wurden von ihm und seiner Frau Erna gern und gut bedient.

Sie hielten aber auch ein Angebot bereit, das für ein Dorf wie Muschaken sehr beachtenswert war. Das Bier vom Faß galt als süffig und war dank eines eigenen Eiskellers immer kühl und frisch. Für die Männer gab es dazu einen Kornschnaps, der es in sich hatte. Und für die Frauen stand süßer Bärenfang bereit, und der beliebte Kosakenkaffee. Die lieben Kinderchen aber, wenn sie einmal mitdurften, konnten sich an Zitronenlimonade und Himbeerbrause laben.

Und die von Erna Kaminski betriebene Küche brachte Grütz-wurst hervor, oder auch Kartoffellinsen, außerdem in Schmand eingelegte Heringe. Zu besonderen Anlässen gab es Schweinebraten mit Salzgurken und zum Nachtisch süße Keilchen. Man sieht, die Gäste konnten wohl zufrieden sein mit dem, was im "Preußischen Adler" verzehrt werden konnte. Und sie wußten das zu würdigen und kamen immer wieder, um die verräucherte Gaststube bis auf den letzten Platz zu füllen.

Das galt vor allem für den Samstagabend. Da hatten die Waldarbeiter ihren Wochenlohn in der Tasche, und es verlangte sie nach einigen Tulpchen Bier. Und die Bauern wollten ebenso den auf ihren Feldern geschluckten Staub durch die Kehlen spülen. Des weiteren trafen sich die Honoratioren von Muschaken zu einer zünftigen Skatrunde. Im einzelnen waren dies der Bürger- meister, der Schullehrer, der Bahnhofsvorsteher und der Gendarm. So saß man einträchtig beisammen im "Preußischen Adler", um die Arbeit der ganzen Woche in behaglicher Muße ausklingen zu lassen.

Halt - voller Eintracht und Harmonie waren diese Samstagabende leider nicht immer. Im Gegenteil, so manches Mal kam es zu dem, was eingangs als "tätliche Auseinandersetzung" erwähnt worden ist. Meist geschah dies aus reichlich nichtigem Anlaß. Man war sich etwa nicht einig, wann die Kartoffeln gesetzt werden sollten. Oder man stritt über die Preise von Roggen und Buchweizen. Auch behauptete zuweilen ein Forstarbeiter, er könne die Axt schneller schwingen als sein Kollege. Man sieht, der Gründe gab es viele, wenn sie auch oft an den Haaren herbeigezogen waren.

Wieder einmal gab es einen solchen Samstagabend. Und es geschah, daß Johannes Kottan am "Preußischen Adler" vorbeischlenderte. Dieser Johannes Kottan war der neue Pfarrer von Muschaken, erst seit etwa vier Wochen im Amt. Nun wanderte er gemächlich durch den Ort, um seine Predigt für den Sonntag zu memorieren. Sie sollte das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zum Inhalt haben und die Gemeinde an die christliche Pflicht mahnen, sich des Nächsten anzunehmen und Friedfertigkeit wie Sanftmut zu üben.

Der neue Seelsorger war noch relativ jung und voller Eifer. Er hatte in Muschaken seine erste Pfarrstelle erhalten. So hegte Johannes Kottan im Innern die Hoffnung, seine Schäfchen - wenn es denn nötig war - mit der Gewalt seines Wortes zu beeindrucken oder gar bessern zu können. Deshalb hatte er an diesem lauen Sommerabend den Spaziergang unternommen, um in Gottes freier Natur seine Predigt noch einmal zu überdenken und zu vervollkommnen.

Er war weit in die Flur hinausgeschritten und betrachtete dort mit Wohlgefallen die wogenden Ährenfelder. Das Korn stand kurz vor der Reife und es versprach, eine gute Ernte abzugeben. Johannes Kottan, der Pastor, freute sich am majestätischen Flug eines Storchenpaares, das zuvor über eine Wiese stolziert war. Am Dorfteich machte er halt, setzte sich auf eine Bank und lauschte dem Konzert der Poggen. Als der Himmel zu dunkeln begann, erhob er sich und trat den Heimweg an.

Mitten im Dorf kam der Herr Pfarrer am "Preußischen Adler" vorbei. Und da war es aus mit der friedlichen Stille und der ländlichen Ruhe. Aus der Gaststätte drangen unüberhörbar Geschrei und Lärm. Durch die erleuchteten Fenster waren schattenhaft Gestalten zu sehen, die durcheinander wuselten und offenbar aufeinander losgingen. Man erkannte nicht nur erhobene Fäuste, nein, manche hielten in ihren Händen wohl gar Bierkrüge und abgebrochene Stuhlbeine. Kurz, im Krug war eine solide Keilerei im Gange.

Johannes Kottan, der Seelsorger, blieb stehen und überlegte, ob er seiner Sonntagspredigt nicht ein paar schärfere Passagen anfügen sollte. In diesem Entschluß wurde er alsbald bestärkt durch das, was nun geschah. Die Tür des Gasthauses wurde aufgestoßen, und ein Mann taumelte nach draußen. Er kullerte die drei Treppenstufen hinunter und blieb auf dem sandigen Sommerweg liegen. Nur deshalb fiel er relativ weich. Die daneben verlaufende Chaussee hätte ihm weit weniger behagt, denn sie war mit groben Feldsteinen gepflastert.

Der Mann - er war nicht sehr groß und wirkte schmächtig - erhob sich ein wenig mühsam, befühlte seine Glieder und tastete vorsichtig nach der Beule auf seiner Stirn. Dann - der Herr Pfarrer hatte sich noch nicht so weit gefaßt, um nach dem Sinn des Ganzen fragen zu können - straffte der Gestürzte die Schultern, zog den Kopf ein und stapfte mit wilder Entschlossenheit die Treppe wieder hinauf. Energisch riß er die Tür auf und stürzte sich in das Getümmel, das in der Wirtsstube herrschte.

Johannes Kottan schaute ihm verwundert und fassungslos hinterher. Doch seine Verblüffung wurde noch größer, denn es dauerte nicht einmal eine Minute, da flog die Kneipentür erneut auf und der Mann von vorhin schlidderte wiederum die Stufen hinunter. Offenbar hatte man ihn mit einem Fußtritt ins Freie befördert. Doch das schien ihn kaum zu beeindrucken, obwohl aus seiner Nase Blut tropfte. Ehe der Pfarrer eine teilnehmende Frage stellen konnte, hatte sich das Kerlchen aufgerafft und Kurs auf die Eingangstür genommen, hinter der er kurz darauf verschwand.

Der Herr Pastor kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Doch er wollte der Sache auf den Grund gehen, deshalb blieb er an Ort und Stelle und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Und sie kamen bald, denn zum dritten Mal wurde die Wirtshaustür aufgestoßen und der Unglücksrabe von vorhin schoß wie eine Kanonenkugel hinaus und landete unsanft im Straßenstaub.

Diesmal verpaßte der Seelsorger von Muschaken die Gelegenheit nicht. Er packte das Kerlchen beim Kragen und fragte: "Was soll das? Dreimal seid Ihr rausgeschmissen worden aus dem Krug. Ihr habt eine Beule an der Stirn, die Nase blutet und die Hosen sind zerrissen. Warum nur wollt Ihr da immer wieder herein?"

Der Mann schnupfte tief auf, blinzelte mit treuherzigen Augen den Pfarrer Johannes Kottan an und erklärte: "Ich muß doch. Denn"...", er machte eine Pause und betastete die Schramme an seiner Wange, "denn ich bin der Wirt!"

Hermann Eisenblätter: Winterliches Karkeln in der Elchniederung