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22.02.03 / Der letzte Kure: Ein Besuch bei Richard Pietsch

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Februar 2003


Alte Sprache dokumentiert
Der letzte Kure: Ein Besuch bei Richard Pietsch

Betritt man im Südwesten Deutschlands, in Heidelberg, das Ein-Zimmer-Appartement des Louise Ebert-Seniorenzentrums, landet man ganz im Nordosten, im alten Ostpreußen, genau gesagt in Nidden auf der Kurischen Nehrung. Die knapp 100 Kilometer lange Landzunge ist hier auf 42 Quadratmeter zusammengepfercht: geschnitzte Kurenwimpel und Elche, in naiver, aber gekonnter Manier gemalte Bilder aus der Heimat, Bücher aus Ostpreußen, darunter das "Fischerleben auf der Kurischen Nehrung" (1982) und "Kurisches Wörterbuch" (1977/1992). Beide Bücher sind von Richard Pietsch geschrieben und von dem Sprachforscher Prof. Friedrich Scholz herausgegeben worden. Die zweisprachige Darstellung des "Fischerlebens", in kurisch und deutsch, ist mit detaillierten, von Sachverstand geprägten Zeichnungen aus dem Alltag der Fischer und hart arbeitenden Menschen von Pietsch illustriert. Unschätzbar wertvolle Dokumente einer nicht mehr vorhandenen Lebenswelt sind hier kenntnisreich und liebevoll dokumentiert. Pietschs herausragende Leistung ist es, einer bisher nur mündlich überlieferten Sprache, dem Kurischen, eine schriftsprachliche Form gegeben zu haben. Und er ist damit ein Archivar einer vor 57 Jahren für immer verschwundenen Kultur eines fast nicht mehr existierenden Volkes.

Wer Augen und Ohren dafür hat, der hört das Rauschen der Ostsee im naheliegenden Heidelberger Stadtwald, sieht den immerwährenden Wind der Nehrung durch feines weißes Haar des alten Herrn wehen, erblickt in hellblauen Augen den hohen, weiten Himmel des Nordostens. Das ist nun die letzte Heimat, eine Art räumliches und geistiges Konzentrat seines Lebens, das 1915 in einer alteingesessenen Fischerfamilie in Nidden begann. Diese Heimat kann ihm niemand mehr nehmen. Hier ist er mit seinen Erinnerungen gut aufgehoben, betreut von seiner Tochter Heidrun, die täglich nach ihm sieht.

Die Gegenwart einer für immer vergangenen Vergangenheit, wechselvolle, tragische deutsche Geschichte wird lebendig, wenn Pietsch spricht. Er ist wahrscheinlich der letzte Mensch auf dieser Welt, der noch kurisch sprechen kann. Ein mit dem Lettischen verwandter Dialekt, der sich in der geographischen Abgeschiedenheit der Nehrung in Nidden, Schwarzort, Preil und Perwelk bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges halten konnte und in seinem Fortbestand durch die traditionelle Lebens- und Arbeitsweise der Fischer und Bauern begünstigt wurde. Pietschs Vorfahren brachten sie von Kurland im 12. und 13. Jahrhundert mit in die Haff- region. Pietsch, "der letzte Elch", wie ihn Jens Sparschuh, der Berliner Autor, in einem Radio-Feature nannte.

Manchmal leidet er darunter, daß eigentlich niemand mehr weiß, aus welch bezaubernder Ecke dieser Welt er stammt. Er berichtet, als er einmal Gymnasiasten fragte, ob sie wissen, wo Königsberg liegt, daß einer meinte, nachdem es niemand sonst wußte: "Bei Flensburg." Solche Ignoranz erträgt er mit einer gewissen Wehmut, und die Frage nach der Lage der Kurischen Nehrung erübrigt sich. Dabei meinte Wilhelm von Humboldt im 19. Jahrhundert: "Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, daß man sie eigentlich ebenso gut wie Spanien und Italien gesehen haben muß, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll." Künstler wie Thomas Mann, der den besonderen Reiz dieses eigenartigen Sandhakens mitten in der Ostsee schätzte und der sich in Nidden sogar ein Sommerhaus von seinem Nobelpreisgeld bauen ließ, hat Pietsch noch am Strand gesehen.

Pietsch ist ein Mann einfacher Bildung, zudem noch körperbehindert, und genau das läßt seine Leistung in einem besonderen Licht erscheinen. Als Dreijähriger verletzte er sich das rechte Schultergelenk schwer, später als Erwachsener zog er sich eine bleibende Behinderung des anderen Arms zu. So war er denkbar schlecht für das harte Fischerleben gerüstet. Er machte aus der Not eine Tugend: Früh übte er sich im Schauen, später im Malen und Schnitzen. Fischer konnte er nicht mehr werden, so wurde er Postillion. Frühmorgens um drei Uhr mußte er aufstehen und mit Pferdewagen oder -schlitten nach Preil und Schwarzort fahren. Im harten östlichen Winter ging die Passage manchmal nur über das Haff.

Ulla Lachauer schreibt in ihrem Buch "Land der vielen Himmel" über seine abenteuerlichen Ausflüge: "In klaren Nächten leiteten ihn die Sterne und der Leuchtturm, in dunklen der Wind, das Hundegebell aus den Dörfern, Intuition. Als ‚Bild der Seele' nahm er die Sonnenaufgänge im Frühjahr mit." Sein Außenseitertum verhalf ihm im Zweiten Weltkrieg zu einem gewissen Erfolg sogar Abiturienten gegenüber. Wegen seiner Behinderung wurde er als Ersatzreserve II zurückgestellt, übernahm aber in der HJ die Organisation von Freizeit, Schulung und paramilitärischen Übungen. 1941 wurde er Sonderbeauftragter für "Werken" in ganz Ostpreußen. Bei Richard Pietsch konnte man vor allem Schnitzen von Spielzeug erlernen. Er besuchte eine Weiterbildung einer Kunstgewerbeschule im Erzgebirge. In Weißenburg/Masuren übernahm er die Leitung einer Werkstatt für Körperbehinderte und Kriegsbeschädigte. 1944 heiratete er eine Königsbergerin. Silvester kam seine Tochter Heidrun zur Welt. Zwei Wochen später mußte er mit der geschwächten Wöchnerin und dem in ein Katzenfell gewickelten Baby die Flucht antreten. Der behinderte Vater zog die beiden auf einem Handschlitten bis Pillau, wo sie es schafften, einen heißbegehrten Platz auf einem Schiff zu bekommen. Sie landeten an der Südspitze von Dänemark. Pietsch kam in dänische Kriegsgefangenschaft, seine Frau starb wenig später an Leukämie, seine Tochter kam zu Verwandten nach Norddeutschland.

Später in der Bundesrepublik Deutschland arbeitete er als Versicherungsvertreter, dann bei der Bundesmarine in der Verwaltung. Er heiratete noch zweimal, bekam zwei Söhne. Mit fünfzig Jahren wurde Pietsch Frührentner. Nun konnte er endlich seine Leidenschaft zum Beruf machen. Er reiste durch Deutschland, interviewte ehemalige kurische Fischer, trug aus Archivalien, Landkarten und alten Büchern alles zusammen, was über seine Heimat noch auffindbar war. Er schnitzte an die zweitausend Kurenwimpel und mehrere hundert Elche für seine Landsleute.

Richard Pietsch wirkt körperlich und seelisch verletzlich, wie er da in seinem Zimmer inmitten seiner Schätze sitzt. Er ist ein Greis voller Anekdoten, Träume, Visionen. Ohne Bitterkeit, fast nüchtern, aber liebevoll spricht er über das für immer Verlorene. Seine Vorstellung vom Leben nach dem Tod hat der 87jährige in einem großen Bild über seinem Sofa festgehalten. Relikt aus einem Leben, in dem wie bei den Fischern auf der Nehrung Sinnliches und Übersinnliches zusammenfließen. Gabriele Lorenz-Rogler

Ein Stück geistigen Erbes Europas bewahrt: Richard Pietsch erzählt lebendig vom Leben und Treiben einer untergegangenen Welt. Für sein Engagement wurde er 1993 mit der Ehrengabe des Georg-Dehio-Preises ausgezeichnet Foto: Lorenz-Rogler

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