23.04.2024

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15.03.03 / Es wird doch Frühling

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. März 2003


Es wird doch Frühling
von Renate Dopatka

Die Hand aufs traurig pochende Herz gepreßt, starrte Luise dem Möbelwagen nach, bis er ihren Blicken entschwunden war. Frühling lag in der Luft. Ein seidenweicher Hauch tänzelte durch die Straßenschluchten und liebkoste zärtlich Luises Wangen. Er sprach von knospender Wärme und Neubeginn, doch die Frau, die so verloren im Eingang des großen Mietshauses stand, schien seine Stimme gar nicht zu vernehmen.

Ihre Unterlippe zitterte ein wenig. Über vierzig Jahre waren sie Nachbarn gewesen, hatten Freud und Leid und die Erinnerung an die gemeinsame Heimat geteilt. Und nun ließ Gertrud sie plötzlich im Stich! Brach alle Zelte hinter sich ab und zog zur Tochter nach Norddeutschland.

Luise schluckte, obwohl Bitterkeit hier gänzlich fehl am Platz war. Schließlich hatte Gertrud sich die Sache keineswegs leicht gemacht. Die vertraute Umgebung zu verlassen, um mit fünfundsiebzig noch einmal neue Wurzeln zu schlagen - das ging körperlich und seelisch an die Substanz. Und doch war es für Gertrud, deren Gesundheit in letzter Zeit immer zu wünschen übrig ließ, zweifellos der richtige Schritt gewesen. Wenn sie, Luise, vor die Wahl gestellt worden wäre, entweder ins Seniorenheim zu ziehen oder aber sich der Obhut der Lieblingstochter anzuvertrauen - sie hätte sicher nicht anders entschieden ...

Trotzdem, ein bißchen weh tat es schon, die vertraute Freundin zu verlieren. Wie schön war es doch gewesen, jemanden zu haben, mit dem sich bei einer Tasse Kaffee so gemütlich über alte Zeiten schabbern ließ. Nicht das Schwere, Traurige stand im Mittelpunkt ihrer Unterhaltung, sondern die Erinnerung an unbeschwerte Kindertage, an ein Land, dessen einzigartiger Zauber sich beiden Frauen gleichermaßen ins Herz gebrannt hatte.

Mit wem würde sie jetzt noch übers Blaubeerpflücken, Kühehüten und Kahnchenfahren sprechen können ...? Die Kinder kamen zwar häufig zu Besuch, zeigten aber wenig Neigung, mit der Mutter über eine Zeitspanne zu reden, an der sie selbst keinen Anteil hatten.

Was blieb, waren die Bilder an den Wänden. Sie erzählten noch immer von zu Hause. Teils hinübergerettet in den Westen, teils erst hier erstanden, schmückten unzählige Stadtansichten, Landschaftsskizzen und gerahmte Fotos Luises Wohnung und verliehen ihr so das Gepräge eines etwas antiquiert wirkenden, kleinen Privatmuseums. So mühselig und zeitaufwendig das Staubwischen auch war - nie wäre es Luise in den Sinn gekommen, sich auch nur von einem einzigen dieser Erinnerungsstücke zu trennen.

Daß ihre mit heimatlichen Motiven vollgepflasterten vier Wände beileibe nicht nur Besuchern der sogenannten Erlebnisgeneration ins Auge sprangen, wurde Luise spätestens in dem Moment bewußt, da es bei ihr an der Tür klingelte und eine junge Frau vor ihr stand, die sich als Nachmieterin von Gertruds Wohnung vorstellte.

"Wir wohnen ja quasi Tür an Tür", lächelte die neue Nachbarin und schüttelte Luise herzhaft die Hand. "Ich hoffe bloß, wir haben nicht zuviel Lärm gemacht beim Einzug?"

Natürlich hat es in den letzten Tagen im Treppenhaus des öfteren heftig gepoltert - Geräusche, die von Luise aber geflissentlich überhört worden waren. Irgendwie hat sie es wohl gar nicht wahrhaben wollen, daß da eine fremde Person von Gertruds Wohnung Besitz ergriff.

"Nun, rumort hat es schon ein wenig", antwortet sie jetzt widerstrebend. Eigentlich hat sie keine Lust, sich mit der neuen Nachbarin in ein Gespräch einzulassen, doch der helle, freundliche Blick und das warme Lächeln ihres Gegenübers wirken wie Tauwetter. Luises starre Haltung lockert sich zunehmend, bis sie schließlich ihre Wohnungstür, die bisher nur einen Spalt weit offen stand, einladend aufstößt: "Ich hab' mir gerade Kaffee gebrüht. Wollen Sie nicht ein Täßchen mittrinken?"

"Lieb von Ihnen. Aber ich möchte auf keinen Fall stören."

"Das tun Sie nicht", erwidert Luise bestimmt. Und dann freut sie sich doch ein bißchen, als ihre Besucherin höchst interessiert vor den vielen Bildern im Korridor stehenbleibt: "Das ist ja die reinste Galerie! Die schönen Aquarelle ...! Und dieses Foto hier - das zeigt doch Allenstein, nicht wahr? Das Hohe Tor, wenn ich nicht irre?"

"Ja, aber woher wissen Sie?" Luise schaut ganz verdattert aus der Wäsche.

"Ganz einfach. Von der Schule aus haben wir mal eine Klassenfahrt nach Ostpreußen gemacht. Da stand Allenstein natürlich auch auf dem Programm ...!"

"Was Sie nicht sagen! Dann kennen Sie sich ja bestens aus in meiner Heimat ...?"

Die junge Frau schüttelt lachend den Kopf: "Das nun gerade nicht. Um ein Land wirklich kennenzulernen, dazu muß man schon eine Zeitlang dort leben oder zumindest öfter hinfahren. Mir hat die Gegend gut gefallen. Und ich denke, daß ich in den Semesterferien noch mal rüberfahre. Camping oder so - das muß dort wunderschön sein."

Ihr Lächeln vertieft sich. "Wissen Sie was, ich lass' mich einfach von Ihnen beraten. So kriege ich doch wenigstens richtige Insider-Tips ...!"

Insider-Tips? Mit solch neumodischen Wortgebilden hat Luise nun wirklich nichts am Hut. Aber Ratschläge, die will sie gern und reichlich geben ...!

Als sie ihre neue Nachbarin nach angeregtem Gespräch bei Kaffee und selbstgebackenen Keksen zur Tür bringt, fühlt Luise sich um vieles wohler in ihrer Haut. Erst jetzt spürt sie den warmen Hauch, der durchs offene Flurfenster ins Treppenhaus hereinweht. Ja, es würde Frühling werden. Frühling auch für sie ...

Allenstein damals: Das Hohe Tor Foto: Archiv