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22.03.03 / Zwei Lorbasse auf grosser Fahrt

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. März 2003


Zwei Lorbasse auf grosser Fahrt
von Günther Reincke

Winter 1928, die Ostsee war, soweit das Auge reichte, zugefroren. Ich höre noch das Bersten des Eises in der Nacht, wenn der Frost sich auf die dicke Eisdecke auswirkte. So erlebte ich mit meinen neun Jahren diesen Winter in Sarkau auf der Kurischen Nehrung.

Ich besuchte damals die Volksschule. Mein Elternhaus stand außerhalb des Dorfes in Richtung Norden; das Grundstück grenzte an einen Feldweg. Bis zum Haffufer waren es nicht mehr als 50 Meter, und bei starkem Ostwind wurden die Haffwellen über den Schilfgürtel, durch die Weidenbüsche bis über eine Weide getrieben, auf der in der Vogelzugzeit auch Störche stolzierten. Wenn ich zur Schule ging, kam ich an einem kleinen Haus vorbei. Es gehörte einem Arbeiter, dessen Sohn Hugo wartete meistens auf mich. Wir gingen in die gleiche Klasse, und er war mein Spielkamerad. Nur eine verschleppte Krankheit wirkte sich auf gemeinsame Spiele oder auf Sport aus: Er hatte ein steifes Kniegelenk, konnte nur hüpfen, und oft und gern habe ich ihm geholfen, wenn es nötig war.

Im Sommer hatte mein Vater - er war preußischer Fischmeister - einen Segelkutter und einen Kahn zum Segeln und Rudern als Dienstfahrzeuge zur Verfügung. Er hatte die Aufgabe, einen umrissenen Bereich des Kurischen Haffs - es war Eigentum des preußischen Staates - auf Einhaltung der Fischereigesetze zu überprüfen. Im Winter stand ihm ein Segelschlitten als Dienstfahrzeug zur Verfügung; für den privaten Bedarf hatten wir einen kleineren Schlitten, damit Bekannte am Ufer des Haffes besucht werden konnten. Meine Mutter und meine Schwester waren oft Mitsegler. Dieser kleinere Schlitten hieß "Kramull"; es war der Kosename meiner Schwester Elsa, die acht Jahre älter war als ich und Papas Liebling war.

Mein Vater war mit wenigen Ausnahmen auch im Winter an seine Aufgaben gebunden; entweder lief er auf Schlittschuhen über das Haff oder glitt mit dem größeren Schlitten bis zu den ans Ufer grenzenden Dörfern. Der kleinere Schlitten lag dann auf dem Eis am Ufer vertäut.

An einem sehr klaren Wochentag, Schularbeiten waren gemacht, trafen Hugo und ich uns am Haff. Im Nu war das Großsegel gesetzt, der Schlitten wurde in den Wind gedreht, und schon ging die Fahrt in Richtung Schaaksvitte auf dem spiegelglatten Eis mit höchster Fahrt los. Beide lagen wir der Länge nach auf dem Holzboden. Ich hatte die Steuerpinne, Hugo lag etwas weiter vor. Er hatte die Aufgabe zu suchen, wo wir eine Durchfahrt durch das aufgetürmte Eis finden würden. Der Frost und der Eisgang hatte bis zu einem Meter hohe spitze Eisschollen aufgetürmt. Wir fanden schließlich eine Durchfahrt, und in rasender Fahrt landeten wir nach etwa einer Dreiviertelstunde am Ufer des Haffs in dem Dorf, in dem wir meinen Vater vermuteten. Er aber war längst fort - nun ging es nach Hause!

Die Sonne geht im Winter schon sehr früh unter, die Dämmerung machte sich bereits bemerkbar. Trotz rascher Fahrt mußten wir bei Annäherung an die Nehrung einzelne Lichter in Sarkau sehen. Bevor es ganz dunkel wurde, erwischten wir noch die Stelle, an der wir auf der Hinfahrt das aufgespaltene Eis durchfahren hatten. Noch einige Kilometer lagen vor uns, dann sahen wir, wie am Haffufer immer mehr Lichter auftauchten. Diese bewegten sich in Richtung Haff; dann hatten wir diese Lichterkette neben uns: Es waren Dorfbewohner, die von meiner Mutter alarmiert waren. Groß war die Erleichterung aller, als sie uns entdeckten. Der Schlitten wurde von mir gegen den Wind gesteuert, das Segel eingeholt, der Schlitten vertäut, dann ging es die kurze Strecke bis zu unserem Haus.

Es wurde nicht gesprochen auf dem Weg. Meine Mutter war vor Sorge fast gestorben. Nachdem wir unsere Winterkleidung ausgezogen hatten, sagte sie: "Eigentlich sollte ich dir den Po versohlen, weil du, ohne etwas zu sagen, diese Fahrt gemacht hast. Weil es aber gut ausgegangen ist, darf Vater nichts davon erfahren. Du weißt, was dann geschieht!" Es wurde jedoch noch ziemlich viel von unserem Unternehmen auch in der Schule gesprochen. Geblieben ist nur die Erinnerung ...