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29.03.03 / Günter de Bruyn erzählt die Geschichte des Berliner Prachtboulevards "Unter den Linden"

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. März 2003


Von der Flaniermeile zur hektischen Strasse
Günter de Bruyn erzählt die Geschichte des Berliner Prachtboulevards "Unter den Linden"

Der Erfolg von Günter de Bruyns Büchern widerlegt die These, das geschichtliche Interesse in Deutschland sei geschrumpft. Was für die veröffentlichte Meinung gelten mag, trifft auf das breite Publikum noch lange nicht zu. Dessen Bedürfnisse und Vorlieben sind viel weiter gespannt. De Bruyns Essay "Preußens Luise" wurde 2001 in sechsstelliger Zahl verkauft, und auch sein neuestes Buch "Unter den Linden" klettert auf den Bestsellerlisten unaufhaltsam nach oben.

"Unter den Linden" heißt die berühmteste Straße Berlins. Der Name überdauerte alle Systeme, was eine seltene Kontinuität darstellt. Ohne diese 1,4 Kilometer lange Meile, die im Osten auf der Höhe von Schloßplatz und Lustgarten beginnt und im Westen am Pariser Platz und dem Brandenburger Tor endet, wäre Berlin kaum mehr als ein Flickenteppich, erst die "Linden" binden ihn symbolisch zusammen.

Die symbolische Bedeutung gilt auch im Ausland. Die Franzosen haben ihre neue Botschaft am Pariser Platz errichtet, auf dem schon die alte, im Zweiten Weltkrieg zerstörte Vertretung gestanden hatte. Die Briten hielten es mit ihrer Botschaft gleich um die Ecke in der Wilhelmstraße ebenso. Der russische Zar hatte bereits 1837 das Kurländische Palais am westlichen Ende der Straße gekauft. Auf dessen Kriegstrümmern errichtete die sowjetische Siegermacht einen stalinistischen Palast. Gegenüber auf der anderen Straßenseite teilte die DDR den "Bruderstaaten" Polen und Ungarn zwei Filetgrundstücke zu, die diese nach 1989 behalten wollten.

Diese Aufzählung macht allerdings auch klar, wie eng Kontinuität und Brüche ineinander verschlungen sind. Auch im östlichen Teil, wo die bekanntesten und kulturhistorisch wertvollsten Bauten stehen - das von Andreas Schlüter errichtete Zeughaus, welches heute das Deutsche Historische Museum beherbergt, Knobelsdorffs Lindenoper, Schinkels Neue Wache -, ist kaum ein Haus noch wirklich historisch, sondern bestenfalls ein Wiederaufbau. Andere Häuser verleugnen ihre Herkunft aus der reglementierten Moderne gar nicht erst.

Den östlichen Teil der Straße hat vor allem Friedrich der Große mit dem "Forum Fridericianum", zu dem die Oper, die Alte Bibliothek und das heute zur Humboldt-Universität gehörende Palais zählen, wesentlich geprägt. Die beste, glücklichste Zeit für die Straße war gewiß das königlich-preußische 19. Jahrhundert. "Centralpunkt der eleganten Welt" wurden die Linden in einem Konversationslexikon von 1834 genannt. Damals waren sie eine Wohn- und Geschäftsstraße, vor allem aber ein Boulevard zum Flanieren mit Cafés, Hotels, Konditoreien, Buchläden, Luxusgeschäften - eine Bühne zur Selbstdarstellung der bürgerlichen Gesellschaft.

Im neuen Kaiserreich wurden die Bauten "größer, aber nicht schöner". So manches der bescheidenen, aber eleganten Stadthäuser mußte Platz machen für protzige Gründerzeitbauten. Der Schinkeldom wurde für ein wilhelminisches Monstrum abgerissen, welches heute freilich fast nostalgisch wirkt. Für das neue Adlon-Hotel mußte 1906 ein Schinkelsches Palais weichen.

Was heute als Bausünde und ästhetische Nivellierung empfunden wird, geht überwiegend, aber nicht ausschließlich auf die Kriegszerstörungen zurück. Die DDR wollte sich diese Straße einverleiben, sie war ihr aber nicht geheuer. Weil sie direkt auf die Sektorengrenze zulief, war sie für offizielle Anlässe nur eingeschränkt nutzbar. Das Schloß wurde gesprengt, andere Bauten hingegen - darunter die Oper - mühevoll hergerichtet. In der Straße fließen politische, Kultur- und Geistesgeschichte, Lokal-, National- und Welthistorie in faszinierender Weise zusammen.

Günter de Bruyn, geboren 1926, hatte schon zu DDR-Zeiten eine Vorliebe für preußische Themen. Nun, da er keine Romane mehr schreibt, ist die preußische Geschichte zur Altersprofession geworden. Er erzählt schnörkellos. Der Leser wird gut informiert und unterhalten. De Bruyns Parlando über die Furien des Verschwindens klingt gedämpft, wie auch die Kritik am Gigantismus des Holocaust-Denkmals. Er kennt sich gut im 18. und 19., weniger gründlich im 20. Jahrhundert aus. Im Kurländischen Palais wohnte zeitweilig Prinzessin Amalie, die Schwester Friedrichs II., was dem Autor Gelegenheit gibt, ihre angebliche heftige, unglückliche Affäre mit dem Freiherrn von der Trenck zu erzählen. Von der interessanten Geschichte der sowjetischen Botschaft, die in den 20er Jahren ein gesellschaftlicher Mittelpunkt war (der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat das in dem Buch "Berlin. Ostbahnhof Europas" kenntnisreich dargestellt), aber teilt er fast gar nichts mit. Eine etwas sentimentale Gewichtung!

Die Pläne, die Straße Unter den Linden als Boulevard neu zu beleben, wirft eine Menge neuer Fragen auf. Die Linden sind heute eine vielbefahrene, nervöse Straße mit einem breiten Fußgängerstreifen in der Mitte, die von vier mickrigen Baumreihen gesäumt wird. Ist der Flaneur, an den die Stadtplaner jetzt wieder appellieren, noch zeitgemäß? Welche geschichtliche, kulturelle und soziale Grammatik soll hier gelesen werden, wo doch soviel authentische Bausubstanz zerstört wurde und an die Stelle des sozialen Rollenspiels die dumpfe Evidenz der globalen Touristenströme getreten ist? Am Pariser Platz haben sich, außer den Botschaften, prominente Bankhäuser niedergelassen und zeigen ihre Macht. Aber selbst die ist neuerdings nicht mehr unangefochten. Für die neuen Bürobauten des Bundestages wurde viel demokratisches Glas verwendet, aber weiß der Wahlbürger deshalb tatsächlich, was hinter den transparenten Wänden geschieht? Der Wiederaufbau des Schlosses ist vom Bundestag beschlossen worden, irgendwann werden die Linden und die Stadtmitte wieder einen architektonischen Bezugspunkt haben, doch was wird er enthalten und vermitteln? Angedacht ist ein Ethnographisches Museum, aber sind die von Weltreisenden und Kolonialisten zusammengerafften exotischen Exponate ein angemessener Inhalt für die Neue Mitte der Stadt und des Landes? So viele Fragen, auf die auch de Bruyn keine Antwort gibt. Wenn er sie gestellt hätte, wäre das Buch viermal so umfangreich und gewiß kein Verkaufserfolg geworden. Thorsten Hinz

Günter de Bruyn: "Unter den Linden", Siedler Verlag, Berlin 2002, zahlr. Abb., 176 Seiten, 18 Euro