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29.03.03 / "Der Krieg muss den Krieg ernähren"

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. März 2003


Die Rote Armee gründete in Ostpreußen Militärsowchosen zur Deckung ihres Lebensmittelbedarfs, eine davon in Schillen
"Der Krieg muss den Krieg ernähren"

Mit der Eroberung Ostpreußens durch die Sowjetarmee lag die Landwirtschaft danieder. Die Höfe waren verlassen, der Boden herrenlos. Das Militär hatte ernste Versorgungsschwierigkeiten. Immerhin standen bei Kriegs- ende drei Dutzend Divisionen im nördlichen Ostpreußen. Ihnen wurde befohlen, sich aus eigener Kraft zu ernähren, Gutswirtschaften einzurichten und die Felder zu bewirtschaften. Zunächst jedoch lebte die Armee noch von erbeuteten Lagerbeständen und US-amerikanischen Konservenlieferungen. Es fehlte auch an Erntemaschinen, Pferden und Traktoren. Dazu kam, daß in Betracht genommene Ländereien von Hinterlassenschaften des Krieges geräumt werden mußten. Es galt, Panzer- und Geschützwracks abzuschleppen, Tote und verendetes Vieh zu begraben, Drahthindernisse und Panzersperren zu beseitigen, Schützengräben zuzuschütten, Minen und Blindgänger zu räumen. So blieben die Ergebnisse der Eigenversorgung im Jahre 1945 recht dürftig.

Deshalb sollte mit dem Beginn des Jahres 1946 ein anderer Wind wehen. Jede Division hatte eine Agrarabteilung zu schaffen, besetzt mit fünf Offizieren, die für die Versorgung ihrer Truppe mit Nahrungsmitteln aus dem besetzten Land verantwortlich waren. Als Arbeitsgrundlage erließ der Militärrat den Befehl vom 29. Januar 1946 "Zur Organisation von 30 Militärsowchosen im Bereich des Besonderen Militärbezirks". Darin hieß es, daß zur Sicherung der Bedarfs des Militärs an Kartoffeln, Gemüse und Getreide 30 militärisch geführte Sowchosen einzurichten seien. Sie waren von Offizieren zu leiten, die Erfahrungen in der Landwirtschaft besaßen. Der Stellenplan für Leitungskräfte sah durchschnittlich 15 Militärangehörige pro Sowchose vor. Jede Militärsowchose hatte etwa 8.000 Hektar zu bewirtschaften. Die Arbeitskräfte waren aus der verbliebenen deutschen Bevölkerung zu rekrutieren. Als landwirtschaftliche "Spezialisten", Kraftfahrer und Mechaniker sollten auch Deutsche und aus Deutschland repatriierte Sowjetbürger herangezogen werden. Sie alle hatten unter militärischer Aufsicht zu arbeiten.

Die Militärsowchosen erhielten eine laufende Nummer. Die Militärsowchose Nr. 20 entstand im März 1946 in Schillen. Sie hatte die Aufgabe, die Ländereien im Großraum Schillen zu bewirtschaften und zur Versorgung der in Tilsit stationierten 28. Mech. Schützendivision beizutragen.

In Vorbereitung auf die Frühjahrsbestellung begann man unverzüglich, alle Deutschen, derer man in der Umgebung von Schillen habhaft werden konnte, in der Sowchose zu konzentrieren. Sie wurden so etwas wie Zivilgefangene. Die Unterbringung erfolgte in Massenunterkünften. Alle wurden sorgfältig registriert.

Im Archiv findet man eine dicke Kladde mit Eintragungen in kyrillischen Schriftzeichen. Es ist das Einwohner- meldeverzeichnis für alle Deutschen in der Militärsowchose Nr. 20. Als Herkunftsorte erscheinen Weidenfließ, Babillen, Argenflur, Maßwillen, Hochmooren, Berghang. Alle diese Orte befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Schillen und gehörten nun zum Territorium der Militärsowchose 20.

Es waren überwiegend Frauen, zum Teil mit Kindern, alte Männer und Jugendliche, die in Schillen erfaßt werden. Nach russischer Praxis hatte der Arbeitseinsatz zentral zu erfolgen. Folglich wurden sie zentral untergebracht, zentral aus der Nachtruhe geweckt - wem war schon seine Uhr gelassen worden? -, zentral zur Arbeit eingeteilt und zentral mit der Brotration und dem Schlag Suppe abgefüttert. Nur wer arbeitete, hatte Anspruch auf die Brotration. Deshalb erschienen auch Kinder zur Arbeit.

Dennoch reichten die Arbeitskräfte nicht, besonders mit Erntebeginn, und so zog die Erfassung weitere Kreise. Im Meldeverzeichnis erscheinen die Herkunftsorte Groschenweide, Kellmienen, Eichenhorst, Ansten, Petersmoor, Ballan- den, Ruddecken, Ulmental. Alle Ostpreußen aus diesen Orten, denen die Flucht nicht geglückt war, die vom Russen überrollt wurden und anschließend voller Hoffnung in ihre Heimatdörfer zurückkehrten, wurden rigoros in die Militärsowchose vertrieben.

Der sich ausdehnende Großbetrieb machte es erforderlich, Deutsche als "Spezialisten" einzusetzen. Das Buch vermerkt den 53jährigen Fritz Deluweit als Schmied, den 54jährigen Otto Juduhn als Bäcker, den 61jährigen Louis Antelmann als Tischler, den 34jährigen Fritz Sziegat als Schuster, den 51jährigen Alfons Szillat als Mechaniker. Andere erhielten Vertrauensstellungen, Fritz Gud- dat (63) als Brigadier, Lene Albschies (27) als Rechnungsführerin, Emma Gruß (45) als Köchin, Ilse Jurklies (20) als Lehrerin, Fritz Rimkus (59) als Wächter.

Im Verlauf der Monate September/Oktober 1946 erhielten alle über 16 Jahre alten Deutschen der Militärsowchose Nr. 20 von der Milizdienststelle in Ragnit einen Lichtbildausweis gegen eine Gebühr von drei Rubeln. Waren sie nun etwa zu Sowjetbürgern geworden? Keiner sagte es ihnen. Stutzig machten allerdings die Worte "Wremennoje udostowerenie". Das hieß "Befristeter Ausweis" und die Gültigkeit betrug drei Jahre. War vielleicht die Ausweisung innerhalb dieses Zeitraums schon beschlossene Sache?

Die Ostpreußen waren zu Fremden in ihrem eigenen Land geworden. Die Eintragungen im Einwohnermeldebuch brechen 1947 abrupt ab. Sie geben keine Auskunft über das weitere Schicksal der hier Registrierten. Was mag aus ihnen geworden sein? Das Buch bleibt stumm.

Kreis Tilsit-Ragnit (Ausschnitt): In Schillen an der Eisenbahnlinie Richtung Süden nach Insterburg entstand im März 1946 die Militärsowchose 20. Foto: GeoInfo-Kohls.com