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19.04.03 / Über die Relevanz des Nationalstaates in der heutigen Zeit des "World Wide Web"

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. April 2003


Keine überholte politische Grösse
Über die Relevanz des Nationalstaates in der heutigen Zeit des "World Wide Web"
von Uwe Greve

Daß es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa", schrieb schon vor Jahrzehnten der Historiker Hermann Heimpel. "Im Zeitalter der Globalisierung", so meinte ein führender deutscher Wirtschaftsmanager kürzlich in einer Fernsehsendung, "ist der Nationalstaat eine überholte politische Größe."

Was aber ist politische Realität? Im letzten Jahrhundert verabschiedeten sich nicht die Nationalstaaten aus der Geschichte, sondern die übernationalen Reiche und kolonialen Staatskonstruktionen: nach dem Ersten Weltkrieg die österreichisch-ungarische Donaumonarchie und das Osmanische Reich - schon Jahrzehnte vor seinem Ende "kranker Mann vom Bosporus" genannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lösten sich alle Kolonialreiche auf, das britische, das französische, das belgische, das niederländische und das portugiesische. Selbst die macht-strotzenden USA mußten den Philippinen die Unabhängigkeit einräumen. Schließlich starben am Ende des letzten Jahrhunderts die künstlichen Staatskonstruktionen der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei. Andere staatliche Großgebilde wie Indien werden von Bürgerkriegen geschüttelt. Selbst Länder wie Kanada mit extrem dünner Besiedlung und Bürgern sich nahestehender Kulturen können die Staatseinheit nur durch extrem föderalistische Verfassungen erhalten.

Die ost- und südosteuropäischen Staaten wie Litauen, Lettland, Estland, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien erfreuen sich des wiedergewonnenen Selbstbestimmungsrechts und der Rückbesinnung auf ihre historischen Wurzeln. Und auch die meisten der ehemaligen überseeischen Kolonien haben sich zu Nationalstaaten gemausert. Nur jene, bei denen die territorialen Grenzen mit den ethnischen in krassem Gegensatz stehen, kommen nicht zu innerer Ruhe und Stabilität.

Doch handelt es sich bei den Nationalstaaten nicht um Relikte aus längst vergangenen Jahrhunderten? Sind sie in Zeiten schneller, kurzer Transportwege, ununterbrochenen Kommunikationsaustausches und der Globalisierung der Märkte nicht überflüssig oder sogar hinderlich geworden? Verbreiten sich nicht moderne amerikanische Musik, Fastfood-Ketten, Coca Cola, Filme, Fernsehserien und Computerspiele um die ganze Welt? Malen nicht Künstler zwischen Berlin, Adelaide, Mexiko City und Los Angeles die gleichen abstrakten Bilder? Ist die Welt nicht über das Computerwesen so miteinander vernetzt, daß das Nationale seinen Sinn verloren hat?

Wer sich heute in Europa und in der Welt mit wachen Augen umschaut, sieht jedoch deutlich, daß die Globalisierung die Völker und Stämme dieser Erde wieder verstärkt ihre eigenen sprachlichen, kulturellen und historischen Wurzeln pflegen läßt. Die universale, dynamische, technische Kultur in ihrer Kälte und Gleichmacherei rüttelt die vielfältigen lokalen, regionalen und nationalen Gegenkräfte wach. Der Wunsch, in der "einen Menschheit" aufzugehen, ist allenfalls bei wenigen "Kosmopoliten" ausgeprägt.

Die Kulturvölker, unabhängig von ihrer zahlenmäßigen Größe, zeigen ein großes Beharrungsvermögen. Ehemalige Kolonialländer suchen verstärkt nach ihren eigenen, oft über Jahrtausende gewachsenen Wurzeln. Und jene Staaten, denen sowjetische Unterdrückung viele Jahrzehnte lang wie Blei auf der eigenen Kultur lag, bilden wieder verstärkt ihre regionalen Eigenschaften wie ihre nationale Identität aus.

Die ethnisch geprägte Nation ist dabei der etatistisch bestimmten weit überlegen. Der ethnisch geprägte Nationalbegriff wurde von dem Ostpreußen Johann Gottfried Herder und dem Italiener Giuseppe Mazzini begründet. Er besagt, daß Abstammung, Sprache, Kultur, Brauchtum und gemeinsame geschichtliche Erlebnisse ein Volk ausmachen. Wenn ein Volk den Weg zum eigenen Staatswesen gehe, werde es zur Nation. Diese Definition schließt Imperialismus, also die Erweiterung des eigenen Territoriums durch Einbeziehung fremder Völker ins eigene Staatswesen aus.

Der aus dem französischen Denken gewachsene etatistische Nationalbegriff besagt, daß die Grenzen des Staates den Umfang der Nation bestimmen. Als die Franzosen Algerien erobert hatten, waren aus diesem Selbstverständnis die Algerier Franzosen. Als Frankreich das Gebiet des Senegals erobert hatte, wurden die Senegalesen in dieser Kolonie zu Franzosen. Dieser etatistische Nationalbegriff hatte also eine imperialistische Komponente.

Der französischen Auslegung schlossen sich die großen Kolonialreiche an. Auch all jene Staaten, die starke fremde ethnische Gruppen vereinnahmt hatten, zogen ihr Selbstverständnis aus dieser etatistischen Betrachtungsweise. Die ethnische Betrachtung Herders und Mazzinis fand insbesondere Anklang bei unterjochten Völkern wie den Polen, Slowenen, Kroaten, Letten, Litauern, Esten, die nach Unabhängigkeit strebten. Die Deutschen waren - mit Ausnahme kurzer kolonialer Fehlwege und in der nationalsozialistischen Ära - eher der ethnischen Variante zugeneigt. Diese allein hat Zukunft!

Für die Präambel des Grundgesetzes wurden nicht ohne Bedacht die Worte gewählt: "Im Bewußtsein vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren ... hat sich das deutsche Volk ... für eine Übergangszeit eine neue Ordnung gegeben." Persönlichkeiten der Frühzeit unserer Republik wie Konrad Adenauer, Kurt Schuhmacher, Thomas Dehler, Jacob Kaiser oder Ernst Lemmer haben nie den Begriff "Volk" durch "Gesellschaft" ersetzt. Ein historisch und philosophisch so hochgebildeter Mann wie unser erster Bundespräsident Theodor Heuss wäre nie auf den Gedanken gekommen, "Volk" und "Bevölkerung" gleichzusetzen. "Die Präambel muß eine Magie des Wortes besitzen", hatte Heuss bei den Beratungen um das Grundgesetz gefordert. Er wußte noch, im Gegensatz zu manchen seiner unbedeutenden Nachfolger, um den Mythos der Nation, der bis in die tiefste Vergangenheit unserer Geschichte reicht. Er unterschied eindeutig zwischen der Idee der Nation und chauvinistischen und rassistischen Fehlentwicklungen.

Überlebt ist nicht die Nation, überlebt sind Imperialismus und Chauvinismus, also nationale Überheblichkeit. Die Nation ist ein unverzichtbares Glied in der Kette unserer Bindungen oder "Gehäuse", wie es einmal der Kulturphilosoph Gerd Klaus Kaltenbrunner ausgedrückt hat. Die Menschen in Deutschland sind als erstes Individuen, Persönlichkeiten; dann Angehörige eines Stammes - Sachsen oder Bayern, Hessen, Ostfriesen, Mecklenburger, Thüringer, Schleswig-Holsteiner, stolze Bürger einer alten Hansestadt; dann Glieder des deutschen Volkes, der deutschen Nation; darüber hinaus Europäer, also eingebunden in die abendländische Kultur und Völkerfamilie; zuletzt sind wir Träger einer humanistischen Verpflichtung im weltweiten Sinne. All diese Stufen gehören zusammen, alle damit verbundenen Pflichten schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingen sich wechselseitig.

Wenn die Führungskräfte der deutschen Politik in der Zeit von 1989 bis heute nicht eine Politik der "Flucht vor der Nation" betrieben hätten, wäre die deutsche Einheit anders verlaufen. Die Impulse, die aus einem starken Bewußtsein nationaler Identität hätten erwachsen können, wurden nicht genutzt. Die starken Gefühlskräfte, der Tatendrang, den das Nationale im positiven Sinne zu verwecken vermag und die alle Deutschen die Lasten der Einheit hätten besser ertragen lassen, wurden nicht genutzt.

Die spontane Selbstlosigkeit der Tage des Mauerfalls hätte in vielen Lebensbereichen längere Zeit aufrechterhalten werden können. Erst der Verzicht auf die nachhaltige Unterstützung des Gefühls "Wir sind ein Volk" hat den Prozeß der Einheit mit Mitteldeutschland schließlich den taktischen Erwägungen und kleinlichen Egoismen des Parteienstreits ausgeliefert.

Die Mehrheit der Deutschen fühlt aber nach wie vor national. Überholt ist nicht der Nationalstaat, sondern einige seiner Erscheinungsformen. Nationales Autarkiestreben und nationale Überheblichkeiten sind überholte, überlebte politische Vorstellungen. Der Nationalstaat der Zukunft hat engste wirtschaftliche Bindungen zu anderen Staaten, nicht nur zu seinen Nachbarn. Er ist mit allen durch vielseitige Verkehrsmittel und -wege verbunden und steht durch das "World Wide Web" in ständigem Informationsaustausch.

Aber unser Leben - unsere Wirtschaft, unsere Kultur und Bildung, unsere Pensions- und Rentensysteme, unser Gesundheitssystem - beruht fast ausschließlich auf nationalstaatlicher Grundlage. So inter- national wie viele Bereiche - von der Wissenschaft und Forschung bis zum Sport - sich auch zeigen: finanziert wird weitgehend über die Nationalstaaten. Und übernational finanzierte Projekte, zum Beispiel der Europäischen Union, sind nur möglich, weil Nationalstaaten in die Kassen der EU einzahlen.

Im Sommer dieses Jahres erfolgt mit dem Entwurf einer europäischen Verfassung eine entscheidende Weichenstellung auch für die Zukunft der europäischen Nationen. Große Teile der globalistisch und antinational orientierten europäischen Bürokratie streben nach einer Verfassung, die die Europäische Union praktisch zum Bundesstaat umgestaltet und die Nationalstaaten möglichst weitgehend entmachtet. Diese Strategie wird insbesondere auch vom deutschen Außenminister Fischer mitgetragen. Er hat das Deutschlandbild der Siegermächte eingesogen: Die Deutschen seien von den Genen her aggressiv gegen ihre Nachbarn. Deshalb müßten sie weitgehend in einem europäischen Superstaat verschmolzen werden, damit sie nie wieder "Angriffskriege" führen können. Für Fischer ist Deutschland an beiden Weltkriegen allein schuldig.

Dagegen steht die Vorstellung vieler Staaten Europas, in denen der Nationalstaat nicht als Wurzel allen politischen Übels der letzten 150 Jahre gesehen wird. Das gilt auch für viele der jetzt hinzukommenden Länder. Sie wünschen sich einen europäischen Staatenverbund, der subsidiär, sprich bürgernah organisiert ist; in dem die Gemeinden, Kreise, Regionen (sprich für Deutschland die Bundesländer) und die Nationalstaaten alles entscheiden, was sie entscheiden können, und die europäischen Institutionen nur das in die Hände bekommen, was dort sinnvollerweise angesiedelt werden sollte: eine gemeinsame Außenpolitik gegenüber den Großmächten; gemeinsame Rohstoffbeschaffung, eine gemeinsame Währungspolitik; der gemeinsame Markt (der seit Jahrzehnten funktioniert); eine Institution zur Konfliktvorbeugung und -lösung; gemeinsame hohe Standards und Anforderungen an Produktionsgüter; eine gute vernetzte Verkehrsinfrastruktur.

Noch weiß niemand, wie der Europäische Verfassungsentwurf, der mit einer Präambel des Bekenntnisses zu den gemeinsamen abendländischen Werten beginnen soll, aussehen wird. Eindeutig ist, daß er von zentraler Bedeutung für die zukünftige Rolle der Nationen in Europa sein wird. Wie sagte doch der deutsche Dichter Friedrich Theodor Vischer: "Man vergesse nicht, daß das wahre Selbstgefühl der Nationen, ein edler Stolz, eine sittliche Macht, der gesunde Boden ist für jedes menschliche Gedeihen, daß es die allgemeine Menschenliebe nicht ausschließt, daß jeder einzelne vor allem Glied eines Volkes und nur durch diese Mittel Glied der Menschheit ist; daß die große, ferne Idee eines Bundes aller Völker in nichts zusammensinkt, wenn man die kräftige Eigenart der Völker auslischt, die ihn bilden sollen."