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19.04.03 / Das schwere Schicksal der Ostpreußin Edelgard Preuß

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. April 2003


Ein Beispiel für viele
Das schwere Schicksal der Ostpreußin Edelgard Preuß
von Magda Bessel

Edelgard Preuß ist 1931 in Weepers am Geserichsee im Oberland geboren. Von Weepers nach Liebemühl sind es rund zehn und nach Osterode zirka 20 Kilometer. Es war ein kleines Dorf am Ende der Welt mit einigen kleinen Bauernhöfen, einer Dorfschule und einem Gasthaus, in dem man auch allerlei Krimskrams kaufen konnte. Es gab nur einen großen Hof und eine Insel, die nicht weit vom Land lag. Hof und Insel waren das Zuhause der Edelgard Preuß. Anfang des Krieges machte ihr Vater aus der Insel eine Halbinsel.

In den Nachbardörfern gab es große Güter. Zum Beispiel besaßen die zwei Brüder von Finkenstein, verwandt mit Graf von Lehndorf, zwei Höfe mit je etwa 3.000 Morgen. Auf der anderen Seite des Sees lag schon Westpreußen. Edelgard wuchs als Älteste von vier Kindern in dieser herrlichen Gegend und an ihrem See, den sie schon als Kind liebte, auf.

Durch den plötzlichen Überfall der Roten Armee änderte sich im Januar 1945 alles. Einige Menschen konnten noch flüchten, der Familie Preuß ist es jedoch nicht gelungen. Vielleicht wollten sie sich auch nicht von ihrer Heimat trennen. Ihr Vater wurde verschleppt und kam nie wieder heim.

Seine letzten Worte waren, sie sollten sich auf der Insel verstecken, er käme ja bald zurück.

Edelgard mußte sich mit ihren 13 Jahren um alles kümmern. Ihre jüngste Schwester Inge, drei Jahre alt und bis dahin ein fröhliches Kind, war aufgrund der vielen schrecklichen Ereignisse vollkommen verändert. So schrie sie zum Beispiel mit, wenn Frauen vergewaltigt wurden, und mußte miterleben, wie ein betrunkener Russe zwischen ihr und ihrer sechsjähriger Schwester, die beide auf einem Sofa saßen, mit einem Gewehr schoß. Inge bekam damals einen Schreikrampf, der auch heute noch immer wieder auftritt und durch Aufenthalte in einer Nervenklinik behandelt werden muß.

Heute lebt sie irgendwo in Zentralpolen und ist mit einem Ukrainer verheiratet. Da sie sehr arm ist, wird sie von meiner Schwester mit etwas Geld unterstützt. Der Hof wurde der Familie Preuß weggenommen. Dieser und ein Gut von Finkensteins wurden Kolchosen. Später bekam ein Pole den Preuß-Hof, der ihn leider völlig herunterwirtschaftete.

Überall in den geplünderten und verbrannten Gütern lagen Bücher, an denen keiner Interesse hatte. Nur Edelgard war hungrig danach. Schon als Kind lernte sie die Marienburg kennen und fand jetzt auch Bücher darüber. Sie kniete sich so in die Lektüre hinein, daß sie 1979, als wir sie kennenlernten, sagte, sie würde sich eine Führung durch die Marienburg zutrauen. Agnes Miegel, Wiechert und andere Schriftsteller wurden ihr sehr vertraut.

Plötzlich tauchte Graf von Lehndorf in Weepers auf. Er war mit einer Tochter von Finkensteins verlobt, die er auch später geheiratet hat. Die Familie von Finkenstein hat er nicht gefunden, sie waren alle geflüchtet. Da er den Vater von Edelgard kannte, konnte er wenigstens Kontakt zur Familie Preuß aufnehmen. Er wurde von ihnen auf der Halbinsel versteckt und Edelgard und ihre Mutter brachten ihm heimlich das Essen. Später flüchtete er dann mit einem Boot über den See nach Westpreußen. Darüber schreibt er auch in seinem Ostpreußischen Tagebuch. Graf von Lehndorf hat die Hilfe nie vergessen und besonders Edelgard hatte er in sein Herz geschlossen und ihr später, als eine Verbindung möglich war, immer geholfen und beigestanden.

Edelgard, inzwischen zu einem jungen Mädchen herangewachsen, bekam eine Anstellung als Hausmädchen bei Oberförster Steusing, der perfekt deutsch sprach. Steusings Vorfahren kamen aus Sachsen. Das muß Ende des 16. oder Anfang des 17. Jahrhunderts gewesen sein, als der damalige König von Polen, August der Starke (1670 - 1733), der auch aus Sachsen stammte, sich viele Landsleute von dort nach Polen geholt hatte. Nach gewisser Zeit sagte Oberförster Steusing zu Edelgard, daß sie gut zu seinem Sohn Adam passen würde. Kurz nach dem Kennenlernen haben sie dann geheiratet. Damals genügte in Polen noch die kirchliche Trauung. Adam wußte, daß er von der Geheimpolizei gesucht wurde. Er fühlte sich in Weepers, am Ende der Welt, etwas sicherer. Er hatte in Lemberg studiert und man nahm an, daß er wußte, von wem die polnische Intelligenz und die Offiziere in Katyn umgebracht wurden.

Den Deutschen wurde ja die Sache in die Schuhe geschoben und erst viel später hat man erfahren, daß es die Russen waren. Außerdem wußte man inzwischen, daß Adam eine deutsche Frau hatte und das wurde dem kommunistischen Staat zu gefährlich. Adam wurde gefunden. Man brachte ihn nach Allenstein ins Gefängnis und er blieb dort zwei Jahre in Haft. Er wurde geschlagen und gefoltert. Als Edelgard ihn besuchen wollte, ihr erstes Kind war unterwegs, bekam sie keine Genehmigung mit der Begründung, daß sie nur kirchlich getraut sei. Man sagte ihr: "Aber Fräulein Preuß, sie sind doch gar nicht mit diesem Mann verheiratet."

Adam kam als gebrochener Mann nach Hause. Edelgard nahm wieder alles in die Hand. Später hat Adam auf der Kolchose als Buchhalter gearbeitet. Sie bekamen ein zweites Kind. Die Kinder sind in die Dorfschule gegangen und haben anschließend in Mohrungen das Gymnasium besucht. Edelgard war sehr arm, sie hat aber ihren Stolz nie verloren. Sie blieb immer die ostpreußische Bauerntochter. Bei ihr zu Hause wurde nur deutsch gesprochen - und das war eine Seltenheit. Auch ihr Mann wollte es so.

Schon bald beherrschte Edelgard auch die polnische Sprache perfekt. Sie war Mittelpunkt im Ort. Mit jedem verstand sie sich gut und versuchte zu helfen. Auch mit den jeweiligen Bürgermeistern im Dorf kam sie gut aus. Sie hat selbst in der kommunistischen Zeit jeden Deutschen in ihrer Muttersprache angesprochen. Die Deutschen reagierten dann oft sehr ängstlich. Ich habe es selbst 1979 erlebt, als wir uns mit dem Bürgermeister unterhielten und eine deutsche Frau vorbeikam. Als Edelgard von ihr polnisch angesprochen wurde, sagte sie vor dem Bürgermeister: "Kannst Du eigentlich nicht mehr deutsch?" Der Bürgermeister meinte später mal zu mir, daß es gut sei, daß nicht alle deutschen Frauen so sind wie Frau Steusing, sonst müßten die Polen Angst haben.

Adam hat noch einige Jahre gearbeitet, dann erkrankte er an Krebs und Edelgard pflegte ihn elf Jahre lang. Anfang der siebziger Jahre ist er gestorben. Die Kinder absolvierten ihr Abitur am Herder-Gymnasium in Mohrungen. Sie wurden oft als Deutsche in der Schule - auch von den Lehrern - schikaniert. Zum Studieren gingen sie nach Allenstein. Es war fast unmöglich, einen Studienplatz zu bekommen und auch hier wurden sie gegängelt. Schließlich bekamen sie doch einen Studienplatz in polnischer Geschichte und Sprache.

Zu dieser Zeit lebte Adam noch und er war entsetzt. Ebenso Graf von Lehndorf, der zu Edelgard sagte: "Deine Kinder dürfen doch nicht Lehrer in polnischer Geschichte und Sprache werden." Nach dem Studium wurden Marek und Bella vom Grafen in die Bundesrepublik Deutschland eingeladen. Edelgard mußte ganz hart sein und sagte ihnen: "Ihr dürft auf keinen Fall hierher zurückkommen und wenn, dann schmeiße ich Euch raus." Als die Kinder weg waren, hat Edelgard tagelang geweint. Sie hatte so eine Sehnsucht nach ihren Kindern. Aber sie wußte, daß sie in Ostpreußen keine Zukunft haben. Mit den Behörden hatte sie noch einige Schwierigkeiten, da ihnen das Studium vom Staat finanziert wurde.

Sie selbst hat auch mit dem Gedanken gespielt, in die Bundesrepublik zu ziehen, sie schaffte es aber nie. Bei Besuchen hatte sie immer eine große Sehnsucht nach ihrem Dorf und ihrem See. Einmal ist sie in einem großen Kaufhaus gewesen und als sie alles gesehen hatte, brach sie fast zusammen. Sie hat geweint und gesagt: "Euch etwas weniger und uns etwas mehr." Sie besaß am See zwei kleine Holzhäuschen und so kamen ab und zu Feriengäste "ans Ende der Welt". Auch meine Schwester, mein Schwager und ich waren 1979 dort. Es war mein einfachster Urlaub und doch einer der schönsten mit Waschen im See und Wasser zum Kochen beim Bürgermeister holen. Beim Abschied habe ich Edelgard versprochen, daß ich ihr, solange ich es kann, immer helfen werde. Sie hat es nicht ganz geglaubt, aber ich halte mein Versprechen jetzt schon seit 23 Jahren.

Auch Graf von Lehndorf war immer für sie da. Als bei ihr eine Gallenoperation nötig war, wurde sie im Krankenhaus des Grafen operiert. Sie hat mir geschrieben, daß sie wie eine Prinzessin behandelt werde. Als es Graf von Lehndorf schon ganz schlecht ging, hat die Gräfin sie eingeladen und gebeten, ganz ostpreußisch zu kochen, das wäre sein letzter Wunsch. Und Edelgard kochte drei Wochen lang für ihn.

Mit fast 50 Jahren überlegte sich Edelgard, was sie machen sollte. Sie hatte ihren Garten, ein Stück Kartoffelland, ein Schwein und Hühner und dachte, daß es besser wäre, sich einen Mann zu suchen, natürlich einen Deutschen. Sie wußte, daß in Schwalgendorf, auch am Geserichsee, eine Frau Hermann wohnte, die zwei unverheiratete Söhne hatte. Edelgard entschied sich, einen der beiden Söhne zu heiraten, vielleicht den Hans. Aber Frau Hermann riet ihr, lieber den Arthur zu nehmen, weil der Hans säuft. Es dauerte nicht lange, da waren Arthur und Edelgard verheiratet.

Sie paßten gut zusammen und am Anfang bewirtschaftete er noch seinen kleinen Hof in Schwalgendorf. Auch im Dorf hat er geholfen, den Polen und den Deutschen, und war sehr beliebt. Aber auch er ist immer ein richtiger Ostpreuße geblieben.

Ich bekam oft lange Briefe von Edelgard und wenn ich diese in meinem kleinen ostpreußischen Freundeskreis vorgelesen habe, war man über die fehlerfreien Briefe und den so guten Briefstil erstaunt. Plötzlich brach vor ungefähr elf Jahren bei Edelgard ihre Krankheit aus - Gicht, Arthritis und Rheuma. Sie konnte nicht mehr schreiben und ihre Hände kaum noch bewegen. Nur noch im Zimmer und auf zwei Krücken konnte sie gehen. Ihren geliebten See sah sie nur noch von ihrem Balkon aus. Fast immer saß sie nun auf ihrem Stuhl, hat gelesen oder den Leuten aus dem Ort Briefe an Behörden und ähnliches diktiert. Besondere Freude hat ihr ein Pole gemacht. Er besaß eine Putenfarm und lernte Deutsch bei ihr. Dieser Pole will ein Kochbuch schreiben und Edelgard wird ihm sicher dabei helfen.

Sie mußte sich inzwischen eine Marjell für den Vormittag nehmen, die sie bekochte und die kleinen Hausarbeiten verrichtete. Doch geklagt hat Edelgard nie. Das Geld war knapp, Arthur hat aber immer bei den Bauern geholfen und so bekamen sie wenigstens Milch und Eier, manchmal sogar ein Hühnchen.

In diesem Jahr ist es dann passiert. Arthur, der im Vorjahr schon zwei Herzinfarkte hatte, wollte an einem heißen Sommertag ein kleines Stückchen mähen. Der Hund jaulte plötzlich so schrecklich, daß Edelgard die Marjell rausschickte. Die fand dann Arthur auf dem Boden liegend. Es kam zwar sehr schnell ein Rettungshubschrauber aus Allenstein, Arthur starb aber schon unterwegs.

Ich wußte mit Sicherheit, daß Edelgard weder in ein Heim noch zu ihrer Tochter in die Bundesrepublik gehen würde. Sie wollte an ihrem See und in ihrem Fischerhäuschen bleiben. Der Pole mit der Putenfarm und seine Frau haben sich dafür eingesetzt, daß die Marjell vom Staat acht Stunden bezahlt wird. Edelgard selbst muß 150 Zloty bezahlen.

Und so sieht nun das Leben von Edelgard aus: Die Marjell kommt morgens, zieht Edelgard an, bereitet das Frühstück und Mittagessen zu und verrichtet sonstige kleine Arbeiten, die anfallen. Am Abend bereitet sie ihr das Abendessen und bringt sie ins Bett. Das ganze Dorf nimmt Anteil an ihrem Schicksal. Sie bekommt viel Besuch, und obwohl die Menschen sehr arm sind, kommen sie dennoch nicht mit leeren Händen. Mal ein Stück Kuchen, ein paar Eier oder Milch oder etwas anderes zum Essen. Edelgard bekommt 650 Zloty Rente, davon gehen die 150 Zloty an die Marjell ab und es bleiben ihr noch 500 Zloty übrig, das entspricht an etwa 125 Euro.

Neben der Dorfgemeinschaft und der Marjell kommen auch die Johanniter vorbei, um ihr Schmerzmittel und andere Medikamente zu bringen, und auch ich rufe sie alle vier Wochen an und unterstütze sie finanziell, so gut ich es eben kann. Sie ist sehr stark, aber sie muß mit ihrer schweren Krankheit, dem Tod von ihrem Arthur und der Armut leben und selbst diese tapfere ostpreußische Frau benötigt einiges an Hilfe, damit sie es schaffen wird - das Weiterleben.

Edelgard lebt noch heute in dem kleinen Häuschen, direkt am Geserichsee, das ihr das Fischerehepaar schon als Kind vererbt hatte.

Ich selbst bin sehr, sehr stolz auf diese Freundschaft

 

Edelgard Preuß: Vom Leben gezeichnet Foto: Bessel

Anno 1953: Mit ihrem ersten Ehemann Foto: Schiemann