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26.04.03 / Europa im Umbruch: Fluch und Segen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 26. April 2003


Europa im Umbruch: Fluch und Segen
Die EU-Beitrittsverträge und ihre Folgen für Deutschland
von Martin Schmidt

Am Mittwoch letzter Woche wurden in der Säulenhalle am Fuße der Athener Akropolis die Beitrittsverträge der Europäischen Union mit den zehn neuen Mitgliedern feierlich unterzeichnet.

In gut einem Jahr, am 1. Mai 2004, sollen dann laut offiziellem Fahrplan die ostmitteleuropäischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien sowie Malta und Zypern die organisatorische Vereinigung mit einem Großteil des übrigen Europas vollziehen.

Der niederländische Ministerpräsident Jan-Peter Balkenende kommentierte die historische Zeremonie in Athen mit dem Satz: "Erst heute ist die Berliner Mauer wirklich eingestürzt."

Daß diese Entwicklung, so wichtig sie für das gemeinsame europäische Bewußtsein, die Politik und das Wirtschaftsleben des Kontinents auch sein mag, für alle Beteiligten schwerwiegende Folgen hat, streitet kein ernstzunehmender Beobachter ab.

Das gilt in besonderem Maße für die Migrationsbewegungen gen Westen, deren Ausmaße sich kaum vorhersagen lassen. Allen Umfragen zufolge trägt sich in sämtlichen ostmitteleuropäischen Staaten ein wesentlicher Teil der Bevölkerung mit Auswanderungsabsichten. Die Gründe sind materieller Natur: In Polen liegen die Löhne und Gehälter beispielsweise noch immer nur bei etwa einem Viertel des EU-Durchschnitts.

Der Gesamtumfang der zu erwartenden Bevölkerungsverschiebungen dürfte sicher in die Millionen gehen und somit gerade im geographisch nahe gelegenen (und auch von daher besonders beliebten) Deutschland die Zuwanderungsproblematik weiter verschärfen, ja sich vielleicht sogar als der sprichwörtliche Tropfen erweisen, der das Faß zum Überlaufen bringt.

Geplante mehrjährige Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und auch in einigen Dienstleistungssparten sollen das Schlimmste verhüten.

Die Ziele der Arbeitsmigranten liegen zumeist in den wirtschaftlichen Ballungsräumen. Diese sind, auch was Deutschland betrifft, weiter von den künftigen EU-Mitgliedern entfernt, so daß die vorhersehbaren Schwierigkeiten im wahrsten Sinne des Wortes weit weg erscheinen und eine breitere Öffentlichkeit (noch) nicht beunruhigen. Anders ist die Lage in den Regionen beiderseits der heutigen EU-Ostgrenze. Dort schwankt die allgemeine Stimmung in der Erweiterungsfrage schon jetzt zwischen tiefer Sorge und - was viel seltener der Fall ist - euphorischer Zuversicht.

Die Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse wird dort besonders schnell vonstatten gehen. Das macht den Menschen Angst, und zwar gerade jenen in den Randzonen der ehemaligen DDR, wo sich längst nicht alle zu den "Wende-Gewinnern" zählen.

Tatsächlich ist die bevorstehende Umverteilung von West nach Ost für die bundesdeutschen Grenzgebiete an der Nahtstelle zur Republik Polen bzw. zu Tschechien auf den zweiten Blick weniger beängstigend, als es zunächst scheinen mag. Denn insbesondere die östlichen Landesteile Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs und Sachsens, aber auch der Norden der bayerischen Oberpfalz sind äußerst strukturschwach und haben schwer mit der gegenwärtigen Pleitewelle im Mittelstand, wachsender Arbeitslosigkeit und der Abwanderung jüngerer Fachkräfte zu kämpfen.

Das vorpommersche Anklam ist als Arbeitslosenhochburg der Republik (mit einer erschreckenden Quote von 31,5 Prozent) nur die Spitze des Eisbergs .

Die Entvölkerung durch den Fortzug jüngerer Arbeitskräfte und niedrige Geburtenzahlen hat gerade entlang unserer Ostgrenzen dramatische Ausmaße angenommen. In der wunderschönen Stadt Görlitz stehen mittlerweile über 10 000 Wohnungen leer; die Bevölkerungszahl in dieser nicht vom Krieg zerstörten niederschlesischenStadt hat sich von knapp 100 000 Menschen vor 1989 auf nur noch gut 60 000 verringert.

Schlechter kann es - zugespitzt formuliert - kaum noch werden. Allenfalls müssen nach erfolgter EU-Osterweiterung noch Teile des örtlichen Handwerks oder arbeitsintensive Betriebe wie Friseurgeschäfte und Reinigungen aufgeben. Sonst können Grenzstädte wie Görlitz oder Frankfurt/Oder durch die künftig zweifellos weiter wachsenden Handelsströme in und aus dem ostmitteleuropäischen Raum wohl nur gewinnen. Auch auf die Kriminalitätsstatistik dürfte sich die Erweiterung dort positiv auswirken, denn so manche illegale grenzüberschreitende Aktivitäten - allen voran der Schmuggel - werden dann an die neuen Außengrenzen der Union verlagert.

Die Zollkontrollen an der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Staatsgrenze fallen bereits im kommenden Jahr weg, während die Personenkontrollen nach Angaben der Regierung Schröder "erst mit deutlichem Abstand zum EU-Beitritt der beiden Länder" aufgehoben werden sollen.

Im besten Fall kommt es in den bundesdeutschen Grenzgebieten zu einer nennenswerten Ansiedlung von Firmen mit Erzeugnissen der Hochtechnologie (etwa der Biotechnologie), die den Wachstumsmärkten im Baltikum, in Polen oder Tschechien nahe sein wollen, ohne die heimischen Verhältnisse hinter sich zu lassen.

Allerdings sind die östlichen Nachbarn derzeit für deutsche und internationale Direktinvestoren vielfach interessanter. Ob zu Recht oder Unrecht, sei dahingestellt. Eine Studie der mitteldeutschen Industrieagentur IIC kam zu dem Ergebnis, daß sich in den neuen Bundesländern außer bei sehr arbeitsintensiven Fertigungen insgesamt kostengünstiger produzieren lasse als in Polen oder Tschechien.

Als Hauptgründe werden die klar höhere Arbeitsproduktivität und die im Falle ausländischer Tochterunternehmen in Ostmitteleuropa im Vergleich zum sonstigen Lohnniveau wesentlich erhöhten Arbeitskosten genannt.

Die Glaubwürdigkeit solcher zu Werbezwecken erstellten Studien ist zweifelhaft. Gemäß einer aktuellen EU-Erhebung sind die Arbeitskosten im Osten der Bundesrepublik viermal höher als in Polen oder Ungarn. Daß man sich bislang noch als halbwegs konkurrenzfähig erwies, ist dieser Quelle zufolge auf den Wettbewerbsvorteil der EU-Zugehörigkeit (mit den entsprechenden sichereren Rahmenbedingungen) zurückzuführen. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung und mögliche Prognosen gibt es einfach zu viele Unwägbarkeiten. Dazu gehört die weitere Lohnentwicklung in Deutschland, die deutlich rückläufig sein wird, aber auch jene in den ostmitteleuropäischen Beitrittsstaaten, deren Lohnkostenvorsprung sich seit Jahren immer mehr verringert.

Wie wenig berechtigt manche Erwartungen und Ängste beiderseits der deutsch-polnischen Grenze sind, zeigt das zur Anti-EU-Propaganda instrumentalisierte polnische Gerede vom "Ausverkauf" des Landes an westliche - namentlich deutsche - Investoren. Der Vorsitzende der Breslauer Immobilienbörse, Leszek Michniak, stellte hierzu im Januar gegenüber polnischen Journalisten klar, daß die Immobilien in den neuen Bundesländern inzwischen viel billiger sind als in den grenznahen Bereichen der Republik Polen. Der Vize-Bürgermeister des Ostteils von Görlitz (Zgorzelec) klagte gegenüber der Breslauer Zeitung Super Express in bezug auf die vermeintlich übermächtigen deutschen Nachbarn: "Es gibt keine Nachfrage, weder nach unseren Immobilien noch nach Grund und Boden, die ausgeschrieben wurden.

An den Ausschreibungen nimmt kein Deutscher teil, obwohl ich nicht verbergen möchte, daß ein guter Investor aus dem Westen bei uns sehr willkommen wäre."

Angesichts der geringen wirtschaftlichen und demographischen Dynamik in Mittel- wie in Westdeutschland kann all das kaum verwundern. Andere Eindrücke bekommt man höchstens in ökonomischen und politischen Zentren wie Breslau oder Danzig.

In Breslau wurden, folgt man den Angaben von Michniak, in letzter Zeit 30 Prozent aller zum Verkauf bestimmten Mietshäuser von Gesellschaften aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien u. a. gekauft.

Der in Polen ebenfalls häufig beschworene "Ausverkauf" ganzer Wirtschaftsbereiche, die im EU-Wettbewerb als nicht konkurrenzfähig erscheinen, ist im ersten Nach-Wende-Jahrzehnt bereits vollzogen worden. Bei diesen Verteilungskämpfen um die neuen Märkte im Osten haben auch große deutsche Unternehmen kräftig mitgemischt. Man denke nur an die Lebensmittelindustrie oder an Auto-, Energie- und Medienkonzerne.

Viel ist auf der Ebene des "großen Geldes" nicht mehr zu verteilen. Eher schon im mittelständischen Sektor, wenngleich auch dort gilt: Wer im Osten gute Verdienstmöglichkeiten sieht, ist in aller Regel bereits vor Ort tätig.

Schon jetzt haben Hunderte oder Tausende bundesdeutscher Mittelständler und Landwirte Wege gefunden, um in Niederschlesien Besitz zu erwerben und zu investieren. Gleiches gilt beispielsweise für das böhmische Egerland.

Sollte sich jedoch die wirtschaftliche Talfahrt hierzulande rasant fortsetzen, dürften weit mehr kleinere und mittlere Unternehmer Rettung in Ostmitteleuropa suchen und für niedrige Steuern und geringere Energiepreise die Nachteile bürokratischer Hemmnisse und ungenügender rechtlicher Absicherungen in Kauf nehmen.

Wahrscheinlich wird sich die EU-Erweiterung für das europäische Herzland Deutschland als Fluch und Segen zugleich erweisen.