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03.05.03 / Europa ist mehr als die Europäische Union

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 03. Mai 2003


Europa ist mehr als die Europäische Union
Ein Blick auf das differenzierte Europabild der Russen in Königsberg und Rußland
von Manuel Ruoff

In der Folge 16 stellten wir die Ausstellung "Die Zarin und der Teufel" vor, in der das Bild der Europäer von Rußland thematisiert wird. Wie das Rußlandbild Europas ist analog auch das Pendant, das Europabild Rußlands, Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft. So wurden im Rahmen der bereits in der Folge 14 vorgestellten Studie des Instituts für Komplexe Gesellschaftsstudien der Russischen Akademie der Wissenschaften die im Königsberger Gebiet und in Rußland interviewten Russen auch nach ihrer Einstellung hinsichtlich des Platzes ihres Staates in Europa und dem europäischen Wirtschaftsraum befragt.

41,7 Prozent vertraten dabei die Ansicht, daß Rußland ein "Teil Europas" sei. Im 20. Jahrhundert habe es "riesigen Einfluß auf die Schicksale der europäischen Staaten und Völker" gehabt und im 21. Jahrhundert werde "es gerade mit dieser Weltregion am engsten verbunden sein". Dem standen 35,5 Prozent gegen-über, die Rußland nicht unbedingt als nichteuropäisch bezeichneten, aber doch als "kein vollständig europäisches Land". Es habe vielmehr eine "besondere eurasische Zivilisation", und das Zentrum seiner Politik werde sich in Zukunft nach Osten verlagern. 22,8 Prozent meinten auf die Frage: "Schwer zu sagen."

Da eine zumindest relative Mehrheit sich als europäisch versteht, ist es naheliegend, daß eine Mehrheit auch die Ansicht vertritt, daß Rußland "mit allen Mitteln danach streben" müsse, "in die Europäische Union aufgenommen zu werden und Teil des gesamteuropäischen Wirtschaftsraumes zu werden". Hierbei handelt es sich sogar um eine absolute Mehrheit von 51,5 Prozent. Dem stehen nur 29,5 Prozent gegenüber, die der Ansicht sind, daß ihr Land "der Europäischen Gemeinschaft nicht unbedingt beitreten" müsse. Daß der Anteil der Befürworter eines EU-Beitritts noch größer ist als der Anteil der vermeintlichen Europäer, kann kaum verwundern angesichts der Vorteile, die eine Mitgliedschaft verspräche. Nicht nur daß Rußland die von Moskau vehement erstrebte Visum- und Zollfreiheit erhielte, es könnte auch noch auf reichliche Zuwendungen aus den Struktur- und Kohäsionsfonds sowie eine Stabilisierung seiner politischen Verhältnisse hoffen.

Das Problem Rußlands ist, daß sein Beitritt die traditionelle westeuropäische Dominanz in der EU und möglicherweise damit auch die in Jahrzehnten erreichte Westbindung Deutschlands gefährden könnte, und so lehnt Brüssel denn auch eine russische EU-Mitgliedschaft ab. Statt dessen wird versucht, Mos-kau eine erneute Teilung Europas mit einer gen Osten verschobenen Trennlinie schmackhaft zu machen. Entsprechend dieser Idee würde Europa geteilt in einen zur EU gehörenden westlichen Teil einschließlich der Osterweiterungskandidaten auf der einen Seite und einen zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gehörenden östlichen Teil mit Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen.

Das Problem der Europäischen Union ist, daß sie sich über Jahrzehnte als schlechthin die politische Organisation der Europäer sowie als eine Wertegemeinschaft präsentiert hat. Die Ukraine und Weißrußland gehören nun aber vollständig und Rußland zumindest bis zum Ural zum europäischen Kontinent. Bis zum Ende des "kalten Krieges" ließ sich noch argumentieren, daß das russische Sowjetsystem mit den Werten der Europäischen Union unvereinbar sei, doch dieses Argument sticht seit den neunziger Jahren nicht mehr. Nun aber mit machtpolitischen oder anderen profanen Argumenten Rußlands Beitritt abzulehnen, wäre dem Anspruch einer Wertegemeinschaft unangemessen. Eine Lösung bietet in diesem Dilemma Samuel Huntingtons in seinem Buch "Kampf der Kulturen" ("The clash of civilizations and the remaking of world order") publik gemachte Theorie, daß an die Stelle des "kalten Krieges" ein "Kampf der Kulturen" trete. Diese Theorie ist jetzt dahingehend weiterentwickelt worden, daß in Europa an die Stelle des "Eisernen Vorhanges" als trennendes Element ein "Samtvorhang" getreten sei, der die weströmisch geprägten römisch-katholisch-protestantischen Gebiete, die real oder potentiell zur EU gehören, von den oströmisch-byzantinisch geprägten sla- wisch-orthodoxen Gebieten einschließlich Rußland trenne.

Derartige kulturelle Unterschiede vermuten die Russen hinter der reservierten Haltung der EU jedoch offenkundig weniger. So ist eine relative Mehrheit von 47,9 Prozent der Überzeugung, daß die (anderen) europäischen Länder "an einem wirklichen Aufschwung in Rußland" desinteressiert seien, weil eine "Stärkung Rußlands eine Bedrohung" dieser Länder darstelle. 38,1 Prozent vertreten die Meinung, daß die "entwickelten europäischen Länder" daran interessiert seien, "daß Rußland die Krise überwindet, denn Europa ist für Rußland wie auch für sie selbst ein gemeinsames Haus".

Düster ist das Bild, daß die Russen von den Motiven Westeuropas für die Zusammenarbeit mit ihnen haben. Eine absolute Mehrheit von 58,5 Prozent unterstellt dem Westen Europas, "ausschließlich an den natürlichen Ressourcen Rußlands (Erdöl, Gas usw.) interessiert" zu sein. Knapp jeder vierte glaubt, daß Westeuropa "an Rußland als Gegengewicht zur Weltherrschaft der USA interessiert" sei. "Westeuropa ist daran interessiert, das kulturelle und intellektuelle Potential Rußlands auszunutzen", meint jeder fünfte.

Demgegenüber ist nur eine Minderheit von 16,7 beziehungsweise 14,0 Prozent der Hoffnung, daß die Westeuropäer "an einer gleichberechtigten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Rußland" beziehungsweise "an der Entwicklung der Demokratie und marktwirtschaftlicher Reformen in Rußland interessiert" seien.

Während in der Bundesrepublik Deutschland bereits die Kinder in den Schulen darauf getrimmt werden, daß EU und Europa eins seien, die beiden Begriffe ganz bewußt als Synonyme verwendet werden und jeder Kritiker der EU oder des Euro sich der Kritik aussetzt, ein ewiggestriger nationalistisch-chauvinistischer Antieuropäer zu sein, wird in Rußland zwischen Europa und der EU sauber differenziert. So lag 2002 zwischen dem Prozentsatz, der mit "Europa" positive Assoziationen verbindet, und jenem, der mit "Europäische Union (EU)" Positives assoziiert, eine Differenz von immerhin 20 Prozentpunkten.

Eine mögliche Erklärung für diese Differenz zwischen den 79 Prozent für Europa und den 59 Prozent für die EU wäre die westeuropäische Dominanz in der EU, denn ebenso wie Westeuropa wird auch der Westen durchaus kritisch beurteilt. So lag der Sympathiewert des Begriffs "Westen" 2002 um 30 Prozentpunkte unter dem von "Europa".

Wo sehen nun aber die Russen den Unterschied zwischen dem nicht ohne Skepsis beurteilten Westeuropa und ihrem eigenen Land? Mit Westeuropa verbindet die Mehrheit der Russen Worte wie Wohlergehen (88,8 Prozent), Komfort (82,4 Prozent) Menschenrechte (79,9 Prozent), Zivilisation (78,7 Prozent), Drogen (75,4 Prozent), Disziplin (70,1 Prozent), Blüte (66,9 Prozent), Kultur (64,4 Prozent), Demokratie (62,9 Prozent), Freiheit (58,9 Prozent), Heuchelei (55,6 Prozent), Sicherheit (52,6 Prozent) und Egoismus (50,0 Prozent).

Mit dem eigenen Land verbinden die Russen mehrheitlich Begriffe wie Krise (79,6 Prozent), Drogen (75,6 Prozent), Patriotismus (68,4 Prozent), Geistige Welt (63,6 Prozent), Moralischer Verfall (63,1 Prozent), Intellekt (61,6 Prozent), Schwäche (57,3 Prozent), Gewalt (56,9 Prozent), Kultur (56,5 Prozent) und Gegenseitige Hilfe (55,0).

Das aktuelle Bild entspricht also in hohem Maße der klassischen Vorstellung. Da stehen auf der einen Seite die Westeuropäer, die sich mit Disziplin und Zivilisation Länder mit einer blühenden Wirtschaft aufgebaut haben, in denen es sich relativ komfortabel, sicher und zivilisiert leben läßt. Dem steht ein schwaches, krisengeschütteltes eigenes Land gegenüber, das zumindest tendenziell von moralischem Zerfall und Gewalt geprägt ist. Obwohl man Westeuropa durchaus die klassischen liberalen Ideale wie Menschenrechte, Demokratie und Freiheit unterstellt, versteht man sich selbst doch trotz eigenen moralischen Verfalls im Vergleich zu den heuchlerischen und egoistischen Westeuropäern noch immer eher als Vertreter des Intellekts, der Geisteswelt sowie einer Selbstlosigkeit, die sich in Liebe zum Vaterlande und gegenseitiger Hilfe ausdrückt.