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24.05.03 / "Polen an die Front!" / Warum Berlin Warschau getrost den Vortritt lassen kann

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 24. Mai 2003


"Polen an die Front!"
Warum Berlin Warschau getrost den Vortritt lassen kann 
von Carl Gustaf Ströhm

Zwischen Deutschland und Amerika gibt es nach außen ein "heißkaltes Verhältnis". In letzter Zeit stellen die deutschen Atlantiker befriedigt fest, daß sich die Beziehungen auf dem Wege der Besserung befänden. Verteidigungsminister Struck weilte in Washington zu Gesprächen mit Rumsfeld. Dieser sprach zwar mit den deutschen Sozialdemokraten, mied aber alles, was zu einem gemeinsamen "Familienfoto" hätte führen können. So trat Struck im Wesentlichen allein vor die Kameras. Man sollte nicht vergessen, daß es noch auf der Münchner Wehrkunde-Tagung vor wenigen Monaten zu einem "Clash" zwischen Rumsfeld und Struck gekommen war.

Auch Kanzler Schröder - bisher einer der deutlichsten Amerika-Kritiker - machte einige versöhnliche Bemerkungen, lobte sogar George Bush senior. Selbst über die Möglichkeit der Entsendung deutscher Soldaten in den Irak wird neuerdings gesprochen, wobei der Vorschlag des polnischen Verteidigungsministers, die Bundeswehr solle sich unter polnisches Kommando stellen und Polen als Besatzungsmacht unterstützen, allerdings wenig Chancen auf Verwirklichung hat.

Nicht nur in Deutschland hat die Geschwindigkeit und Unbedingtheit, mit der Polen in der Irak-Frage auf die US-Linie einschwenkte, Befremden hervorgerufen. Es kann kaum ein Zweifel bestehen, daß die demonstrative "Ernennung" Polens zur dritten Besatzungsmacht (neben US-Amerikanern und Briten) im Irak in erster Linie als Affront gegen die Deutschen verstanden werden muß. Damit haben die Deutschen erfahren, daß sie ihre Rolle als "privilegierte" Verbündete der USA ausgespielt haben. Amerika sucht willfährige Verbündete - und da kommt Polen gerade richtig: Nicht groß genug, um die amerikanischen Kreise wirklich stören zu können, aber groß genug, um ein "Ärgernis-Potential" aufzubringen. Gewiß ist es übertrieben, Polen als überseeischen Pfahl im Fleische der Europäischen Union zu bezeichnen - aber ein Funken Berechtigung ist schon dabei. Die Bush-Administration hat das bewußt ausgespielt, um die störrischen (und zu pazifistischen) Deutschen in die Ecke zu drängen. Allerdings sind sich die Amerikaner nicht darüber klar, was sie sich eingetauscht haben. Weder politisch noch militärisch ist Polen auf die knochenharte Aufgabe vorbereitet, die es im Irak erfüllen muß.

Für Warschau winken allerdings beachtliche Belohnungen: Nicht nur eine prestigemäßige Aufwertung gegenüber den anderen Europäern und vor allen Deutschen, sondern wohl auch finanzielle Zusagen. Kurz gesagt: Die Amerikaner werden sich die polnische Bundesgenossenschaft etwas kosten lassen. Polen wird mit einer privilegierten Behandlung seiner wirtschaftlichen Interessen rechnen können. Schon hört man, daß zumindest ein Teil der in Deutschland stationierten US-Truppen und Militäreinrichtungen nach Polen verlegt werden, wo leerstehende Stützpunkte der früheren Sowjetarmee zur Verfügung stehen.

Es geht aber nicht nur um Polen. US-Verteidigungsminister Rumsfeld empfing unlängst seinen ungarischen Amtskollegen Ferenc Juhasz. Nach Rückkehr aus Washington sagte dieser, man habe über die Möglichkeit der Verlegung amerikanischer Einheiten aus der Bundesrepublik nach Ungarn gesprochen.

Ungarn wolle einen Beitrag zum Wiederaufbau und zur Stabilisierung des Irak leisten. Allerdings war, schon mit Rücksicht auf die starke Opposition im Budapester Parlament, ausdrücklich nicht von "Kampftruppen" die Rede.

Die ungarische Bevölkerung fürchtet, in den Sog nahöstlicher Konflikte und Terroranschläge gerissen zu werden. Die Begeisterung Budapests für ein militärisches Engagement im Nahen Osten ist daher sehr gering. Übrigens verhalten sich auch einige andere "neue Europäer", auf die Bush große Hoffnungen setzte, eher zwiespältig. Der tschechische Präsident Vaclav Klaus sagte, in Tschechien seien amerikanische Truppen nicht erwünscht. Man sieht: So neu ist das neue (alte) Europa also auch wieder nicht.

In erster Linie hängt das mit den unterschiedlichen Bedrohungsszenarien (und mit dem Bedrohungsgefühl) der einzelnen europäischen Nationen zusammen. So sehr man die europäische Einigung auch feiern und immer wieder eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik beschwören mag - in der Realität liegen die Dinge weit auseinander. Die weiter östlich gelegenen EU-Aufnahmekandidaten - zum Beispiel Polen, das Baltikum, aber auch Rumänien und Bulgarien, empfinden immer noch eine Bedrohung durch den "russischen Bären" und wollen sich vor einem neo-sowjetischen Imperium schützen. Schon die Tschechen empfinden das nicht so - und die Westeuropäer erst recht nicht. Hier ist kaum noch jemand davon zu überzeugen, daß "die Russen" in absehbarer Zeit eine Gefahr darstellen könnten. Folglich, so könnte man etwas verkürzt formulieren, wenden sich die "rußland-ängstlichen" Europäer lieber gleich nach Washington, weil sie glauben, dort mehr Verständnis und im Ernstfall Hilfe zu erhalten. Darüber, daß die amerikanische Bundesgenossenschaft auch ihren Preis hat und daß man als Verbündeter oder Vasall den Amerikanern auch lästig werden kann, wird (einstweilen) nichts gesagt.

Wie sehr sich außenpolitische und strategische Perspektiven und Präferenzen ändern können, zeigt der Fall Tschetschenien:

Ursprünglich wurden die rebellischen Tschetschenen von den Amerikanern als heldenhafte Freiheitskämpfer betrachtet. Seit dem Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme und der US-Kriegserklärung an den islamischen Terrorismus sind auch die Tschetschenen Terroristen und nicht mehr Freiheitshelden.

Das alles deutet darauf hin, daß sich die Lage, vor allem im erweiterten Europa, in Zukunft nicht konfliktfrei entwickeln wird. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß die Nationalstaaten und überhaupt die nationale Komponente aus dem Bewußtsein der Menschen verschwinden werden. Gerade in den demnächst neu hinzukommenden mittel- und osteuropäischen Staaten ist eine starke Substanz an Nationalbewußtsein festzustellen. Diese Völker haben Jahrzehnte - manchmal sogar Jahrhunderte - der Unterdrückung und Fremdbestimmung (zuletzt in der sowjetkommunistischen Ära) in erster Linie Dank ihres nationalen Bewußtseins überlebt. Ihnen dieses wegnehmen zu wollen und sie auf einen multiethnischen, multikulturellen Einheitsbrei festzulegen, würde von großer politischer Kurzsichtigkeit, ja Verantwortungslosigkeit zeugen.

Der Patriotismus ist der einzige Reichtum des armen Mannes, sagte einst ein kluger Beobachter. Das Nationalgefühl hat den Menschen seinerzeit die Kraft gegeben, dem Totalitarismus zu widerstehen. Auch in den kommenden, wahrscheinlich unruhigen Zeiten wird das Nationale ein Ordnungselement sein, auf das eine kluge Politik nicht verzichten kann. Deshalb sind alle Versuche, Nationen oder Personen eine Art kollektive Schuld aufzubürden, auf die Dauer zum Scheitern verurteilt. Was Deutschland betrifft, so muß es sich entscheiden, welche Rolle es in Europa spielen soll. Am Fall Irak hat sich, gewissermaßen als ungeahntes Nebenprodukt, gezeigt, daß die Rolle des treuesten US-Vasallen im kalten Krieg heute nicht mehr "zieht". Deutschland und Amerika haben auf vielen Gebieten ähnliche oder parallele Interessen - aber sie haben keineswegs immer und überall identische Interessen. Die Kunst der Diplomatie besteht darin, die eigenen Interessen gegenüber anderen Mächten zu formulieren und sie zu vertreten, ohne sich einerseits einschüchtern oder andererseits zu feindseligen emotionalen Ausbrüchen hinreißen zu lassen. Leider ist die deutsche politische Klasse - im Gegensatz etwa zur französischen - außenpolitisch und psychologisch auf eine solche klare und nüchterne Interessenvertretung nicht vorbereitet. Man sieht das gerade jetzt wieder mit erschreckender Deutlichkeit: Kaum kommen erste "versöhnliche" (aber immer noch unverbindliche) Signale aus Washington, ist man sogar bereit, deutsche Soldaten nach Bagdad zu schicken - obwohl dort möglicherweise der Tod auf sie wartet und Deutschland, bei Lichte besehen, weder in Afghanistan noch im Irak etwas zu suchen hat.

Die Rolle der dritten Besatzungsmacht sollte Berlin getrost den Polen überlassen. Es ist wie im Fußball: Es gibt eine erste und eine zweite Liga. Jedem bleibt überlassen, in welcher er mitspielen will oder kann. 

Auseinanderdriftende Interessenvertretung: Während sich Berlin und Paris, wenn auch mit unterschiedlichem Geschick, von Washington "abnabeln", sucht Polens Präsident Kwasniewski (Mitte) die Nähe der USA Foto: reuters