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14.06.03 / Vom Arbeiterprotest zur Volkserhebung / Fritz Schenk, von 1952 bis 1957 Persönlicher Referent des DDR-Planungschefs Bruno Leuschner, beleuchtet die Ursachen für den Aufstand vom 17. Juni 1953

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. Juni 2003


Vom Arbeiterprotest zur Volkserhebung
Fritz Schenk, von 1952 bis 1957 Persönlicher Referent des DDR-Planungschefs Bruno Leuschner, beleuchtet die Ursachen für den Aufstand vom 17. Juni 1953

Drei politische Ereignisse müssen genannt werden, die dem Aufstand vorausgegangen, jedoch maßgeblich für seinen Ausbruch gewesen waren:

1.) Die Stalinnote vom 10. März 1952 an die drei Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich zur Aufnahme neuer Verhandlungen über Deutschland mit dem Ziel der "Herstellung der deutschen Einheit und des Abschlusses eines Friedensvertrages".

2.) Die 2. Parteikonferenz der SED vom Juli 1952, welche den "Aufbau des Sozialismus in der DDR" beschlossen hatte.

3.) Stalins Tod am 5. März 1953, die Bildung einer neuen "kollektiven Führung" in der KPdSU sowie der sowjetischen staatlichen Administration, welche einen "Neuen Kurs" im Gesamtsystem des Sozialismus anstrebte.

Im Frühjahr 1952 hatte der "Kalte Krieg" seinen damaligen Höhepunkt erreicht. Im Korea-Krieg hatten die UN-Streitkräfte unter Führung der USA, nach anfänglichen schweren Niederlagen und Rückzügen 1950/ 51, die von Moskau und Peking gestützten nordkoreanischen Aggressoren bis nahe an die chinesische Grenze zurückgeschlagen. Auf US-Präsident Truman wurde von Militär und Öffentlichkeit Druck ausgeübt, den Krieg auch über die chinesische Grenze hinaus fortzuführen, vielleicht sogar Atomwaffen einzusetzen. In Westeuropa hatte dies nicht nur den Aufbau der Nato sehr schnell vorangetrieben, sondern auch die Gründung einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG) unter Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland auf die Tagesordnung gesetzt, deren konkrete Planungen vor allem von Frankreich forciert wurden.

In Westdeutschland zeichneten sich die Vorboten des "Wirtschaftswunders" ab, was seit 1951 zu einer von Monat zu Monat anschwellenden Fluchtwelle aus der DDR (hauptsächlich von technisch-wissenschaftlichen Führungskräften und jüngeren Facharbeitern) führte. Das schränkte das ohnehin schon immer schwache Renommee der westdeutschen Kommunisten bis zur Bedeutungslosigkeit ein. In den osteuropäischen Satellitenstaaten regte sich innenpolitischer Widerstand gegen den Stalinismus, welchen der Sowjetdiktator mit einer Reihe von Schauprozessen, mit Todes- und drakonischen Freiheitsstrafen sowie mit einer Verschärfung des Massenterrors durch die zu dieser Zeit schon weit fortgeschrittene Allmacht der inneren (Staatssicherheits-)"Organe" zu unterdrücken versuchte. Einen "Dialog" zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion gab es praktisch nicht mehr.

In dieser angespannten Gesamtlage erregte die Sowjet-Note vom 10. März 1952 allgemeines öffentliches Aufsehen. Daß sich Stalin damit nur an die drei Westmächte wandte, entsprach den politischen Realitäten: Beide deutsche Teilstaaten hatten nur begrenzte Souveränität, insbesondere die "Deutschlandfrage als Ganzes" lag ausschließlich in den Händen der Signatarstaaten des "Potsdamer Protokolls" von 1945. In der Note schlug Stalin nun den Westmächten die schnellstmögliche Aufnahme von Verhandlungen über Deutschland mit dem Ziel vor, die Einheit Deutschlands wieder her-zustellen, eine gesamtdeutsche demokratische Regierung zu bilden und mit ihr einen Friedensvertrag abzuschließen. Deutschland sollte eine kleine Armee zur Selbstverteidigung zugestanden werden, es müsse neutral und "friedliebend" sein und dürfe sich nicht an militärischen Paktsystemen oder Bündnissen beteiligen, die gegen andere Staaten gerichtet seien. Unmittelbar nach Abschluß des Friedensvertrages und seiner Ratifikation durch die gesamtdeutsche Regierung sollten alle Siegermächte ihre Truppen "vollständig" aus Deutschland abziehen. Wie diese "demokratische deutsche Gesamtregierung" zustande kommen solle, hatte Stalin offengelassen.

Ich war zu diesem Zeitpunkt aus dem Dresdener Sachsenverlag zum damaligen obersten Wirtschaftsführer der DDR, Bruno Leuschner, als dessen Persönlicher Referent in die Staatliche Plankommission nach Ostberlin versetzt worden. Das eröffnete mir Einblicke in Vorgänge der SED/DDR-Führung. So nahm ich zwar wie die Öffentlichkeit die obligatorischen Lobeshymnen der kommunistischen Presse auf die "grandiose Friedensgeste" des "weisen und großen Genossen Generalissimus Stalin" wahr. Im Unterschied zu allen früheren ähnlichen oder meist auch viel unbedeutenderen Verlautbarungen dieses "Genius unserer Epoche" spielte die Note jedoch in den internen obligatorischen Partei- und Verwaltungsschulungen und in den täglichen Dienstbesprechungen mit "ideologischer Ausrichtung auf unseren Friedenskampf" keine Rolle. Intern und in Zweier- oder kleinen Gruppengesprächen unter Vertrauten wurde jedoch gerätselt, was das denn für die DDR, uns Funktionäre und für den auf den Sozialismus gerichteten Kurs ganz allgemein bedeuten könnte. Anzeichen der Lähmung, der Unsicherheit und Rat- losigkeit, des Abwartens, des vorsichtigeren Agierens und des Hinausschiebens von Entscheidungen (auch unter den sonst "hundertfünfzigprozentigen" kritiklosen Mitläufern der SED) waren unübersehbar. So etwas ist Gift für den Machtapparat und die innere Festigkeit eines totalitären Systems. Die Situation änderte sich nur geringfügig, als die SED - nachdem die Bundesregierung unter Konrad Adenauer sich in Noten an die Westmächte gewandt und zur Herstellung der deutschen Einheit freie, geheime und international kontrollierte Wahlen als Voraussetzung gefordert hatte - nun ihrerseits mit einer Propagandakampagne gegen die "westdeutsche revanchistische Kriegstreiber-Clique" konterte. Das Wesentliche blieb: Deutschland als Ganzes stand wieder auf der Tagesordnung - und die DDR damit offenbar zur Disposition.

Das hieß vor allem für Walter Ulbricht "Alarmstufe eins". Er brauchte gerade in dieser Situation ein außergewöhnliches Signal, um der SED und ihrem Funktionärskader den Kleinmut und die Zukunftsangst zu nehmen. Schon seit Februar war eine "Parteikonferenz" in der Planung. (Zum inneren Verständnis der stalinistischen Parteipraxis: Im Unterschied zu "Parteitagen", auf denen die Führungen "gewählt" und Grundsatzprogramme "beschlossen" werden sollten, waren "Parteikonferenzen" ausschließlich für außergewöhnliche neue Kursbestimmungen der allgemeinen "Parteilinie" vorgesehen.) Auf ihrer 1. Parteikonferenz 1949 hatte sich die SED zur "Partei neuen Typus" erklärt und voll dem stalinistischen Modell gleichgeschaltet. Ulbricht drängte nun gegenüber den Sowjets darauf, daß die DDR den anderen Staaten des Ostblocks endlich gleichgestellt und nicht mehr nur eine "antifaschistisch-demokratische Ordnung" sein, sondern ebenfalls ein "sozialistischer" Staat werden sollte. Und diese neue Kursbestimmung Richtung "Aufbau des Sozialismus" müßte das Generalthema der 2. Parteikonferenz werden.

Ende Mai 1952 wurden die SED-Spitzen von Stalin empfangen. Bis dahin hatte zwischen Moskau und den Westmächten ein mehrfacher Notenwechsel stattgefunden, in dem die westliche Seite das "Wie" des Einheitsprozesses ausloten wollte und dabei vor allem auf unbehinderten und international kontrollierten freien Wahlen bestand. Das hatte Stalin zu der Erkenntnis gebracht, daß ein Überrumpelungsversuch, die deutsche Gesamtregierung über die gleichgewichtige ("paritätische") Zusammenlegung aus westdeutschen und ostdeutschen Vertretern einfach "bestimmen" zu lassen (wie er 1945 die SED aus Kommunisten und Sozialdemokraten "entstehen" ließ), wohl ohne Erfolgsaussichten sei.

So setzte er einerseits den Notenwechsel mit den Westmächten zwar fort, gab aber andererseits der SED grünes Licht für den "Aufbau des Sozialismus" in der DDR.

In der Staatlichen Plankommission hatten wir ohnehin von den außenpolitischen Rankünen um den Notenwechsel kaum Notiz genommen. Unter Anleitung sowjetischer "Berater" bereiteten wir die praktischen Maßnahmen vor, die mit dem Aufbau des Sozialismus verbunden sein würden. Bis dahin waren durch die Enteignungen der Jahre 1945 bis 1949/50 zwar schon rund 60 Prozent der industriellen Produktion verstaatlicht. Im Sozialismus sollten das aber in kürzester Zeit mindestens 80 Prozent werden. Um dahin zu kommen, gab es eigentlich nur zwei Wege: entweder durch außergewöhnliche Investitionen zur schnellen überproportionalen Ausweitung der vorhandenen "volkseigenen" Wirtschaft - oder durch Aufkauf der verbliebenen Privatwirtschaft durch die Staatsbetriebe. Für beide rechtlich einigermaßen tragbaren Wege fehlten aber sowohl das Geld als auch grundsätzlich der politische Wille. So wurden Maßnahmen erfunden, die die restliche Privatwirtschaft ab Herbst 1952 mehr und mehr in den Ruin trieben oder Unternehmer zur Flucht in den Westen veranlaßten oder durch politische Repressalien resigniert zur Aufgabe zwangen.

Von noch größerer Tragweite war jedoch, daß das gewachsene Wirtschaftsprofil Mitteldeutschlands, das aus einer breiten Palette mittelständischer Hersteller von Verbrauchsgütern, Kleingeräten und Ausrüstungen für Industrie, Handwerk, Handel und Gewerbe bestand, nun mit gewaltigem Übergewicht auf Schwermaschinenbau und Ausrüstungen für die sowjetische Montan- und Rüstungsindustrie umgerüstet werden mußte. Es war eines der unverrückbaren Dogmen des Stalinismus, daß im So- zialismus die "Abteilung A" der Volkswirtschaft (Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie) immer schneller zu wachsen habe als die "Abteilung B" (Verbrauchsgüterindustrie).

Und da das System der zentralen Planwirtschaft sowjetischen Typs in der DDR schon grundsätzlich etabliert war, hieß dies, daß die Investitionspläne für alle Branchen der DDR völlig überarbeitet werden mußten: In der "Abteilung A" wurde kräftig draufgepackt, in der "Abteilung B" entsprechend gestrichen - ohne Rücksicht darauf, welche Investitionen in dem einen Sektor schon so weit fortgeschritten waren, daß deren Stopp einen großen ökonomischen Schaden bedeutete, während die Verlagerung der Investitionsmittel in den anderen Sektor in so kurzer Zeit dort, ohne entsprechende technische Vorplanungen hinsichtlich Neubau und maschineller Ausrüstungen, noch gar keine Anwendung finden konnte.

Das waren die Haupteinwände der Ressortchefs der Plankommission sowie der Experten aus den Fachministerien. In den Sitzungen ging es chaotisch zu. Leuschner ließ sich davon aber nicht beirren. Konsequent strich er hier Millionen weg, um sie den anderen Ressorts wieder zuzuschlagen. Am Ende war er mit dem Ergebnis von 55 Prozent der rein schematischen Aufteilung der Investitionsmittel zugunsten der "Abteilung A" und 45 Prozent für die "Abteilung B" zufrieden, was so auch von den Sowjets und vom SED-Politbüro abgesegnet wurde. Entsprechend wurden selbst- verständlich auch Arbeitskräfte- und Ausbildungspläne sowie sonstige Ressourcenverteilungen und Schwerpunktsetzungen für Städte und Kreise geändert, was in seiner Summe eine gewaltige Strukturveränderung für die gesamte DDR bedeutete. Dies alles wurde sodann noch auf 15 Verwaltungsbezirke der DDR umgegliedert, weil mit dem Aufbau des Sozialismus auch die seit Kriegsende bestehenden (und nach der Einheit wieder geschaffenen) fünf Länder der DDR liquidiert wurden.

Als dann vom 9. bis 12. Juli 1952 die 2. Parteikonferenz stattfand, erhielten Ulbricht und die SED jenen Ruck aus der Lethargie, die sie seit dem 10. März gelähmt hatte. Wir persönlichen Mitarbeiter der Führungsmitglieder hatten unsere Plätze in der vorderen Reihe neben der Haupttribüne in der Ostberliner "Werner-Seelenbinder-Halle". Ich konnte von dort das Plenum gut überblicken und bin bis heute das bedrückende Gefühl nicht losgeworden, das der überschwengliche Beifall bei mir ausgelöst hatte, als Ulbricht den "Aufbau des Sozialismus" verkündete. Noch hatte ich die NS-Wochenschaubilder von Goebbels ("Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg?") in Erinnerung. Und nun erlebte ich keine zehn Jahre später den gleichen blinden Gefühlstaumel einer Funktionärskaste, die sich in der Mehrheit aus den gleichen Altersjahrgängen rekrutierte wie Hitlers Gefolgschaft im damaligen "Reichssportpalast".

Für den Rest des Jahres 1952 gab die Konferenz dem Partei- und Staatsapparat jedenfalls jenen Schwung und jene Selbstsicherheit zurück, den er für die Eliminierung des Restes der "bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft" und der in der DDR noch verbliebenen Privatwirtschaft brauchte. Das geschah mit äußerster Brutalität, weil einer der wesentlichsten dogmatischen Grundsätze Stalins lautete, daß der Aufbau des Sozialismus "gesetzmäßig" mit einer "Verschärfung des Klassenkampfes" verbunden sei. Deshalb müsse der Kampf gegen Volksfeinde, Spione, Saboteure und feindliche Elemente aller Art verstärkt und mit großer Härte geführt werden. Dazu gehörte auch eine Reihe von Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsdisziplin und Produktivität, wozu auch eine Verfü-gung zur Anhebung aller Ar- beitsnormen um zehn Prozent zählte.

6. März 1953: "Mit J. W. Stalin ist der große Wissenschaftler des Marxismus-Leninismus, der weise Führer der Werktätigen im Kampfe um den Sozialismus, der geniale Feldherr des Großen Vaterländischen Krieges des Sowjetvolkes, der überragende Kämpfer für die Erhaltung und Festigung des Friedens in der Welt dahingegangen. Das Lebenswerk J. W. Stalins wird auf Jahrhunderte die Entwicklung des Weltgeschehens beeinflussen" - so verkündete die SED den Tod des am Vortag verstorbenen Stalin. Als hätte jemand einen großen Hauptschalter umgelegt, stand der Machtapparat still. Auch allerhöchste Funktionäre hatten Zeit, aus Kohlepapier (anderes hatten wir nicht) schwarze Streifen zu schneiden, sie zusammenzukleben und als Trauerränder an den obligatorischen Stalinbildern in den Arbeitszimmern anzubringen.

Außer Abteilungssitzungen zur Würdigung des "Großen Stalin" - mit "heiligen Schwüren, die Einheit und Reinheit der Partei nun erst recht zu hegen und zu verteidigen," - fand nichts statt, wurde nichts entschieden. Konnte auch nicht - denn auch Karlshorst, die Zentrale der sowjetischen Militärverwaltung mit unseren "Freunden" und "Beratern", war abgetaucht. Und ohne daß von dort, wozu auch immer, ein Plazet erteilt wurde, ging keine Anweisung heraus, wurde auch nichts dem Politbüro oder dem DDR-Ministerrat vorgelegt. Es kamen auch keine Anfragen oder Anweisungen von Ulbricht oder von DDR-Ministerpräsident Grotewohl. Auch sie fanden offenbar keine Ansprechpartner in der Sowjetführung. Allgemeine Totenstille.

Sie hielt fast einen Monat an. Dann kam gegen Mitte April der stellvertretende sowjetische Planungschef Nikitin nach Berlin und bezog in Karlshorst Quartier. Von ihm erfuhren wir Näheres, was unter der nach Stalins Tod betonten neuen "kollektiven Führung" zu verstehen war: ein Führungsquartett mit Chruschtschow (Parteiapparat), Malenkow (Staatsapparat), Molotow (Außenpolitik) und Berija (Sicherheit). Das war für die seit Anfang der dreißiger Jahre an die absolute Befehls- und Lenkungsgewalt Stalins gewöhnten Altkommunisten unbefriedigend. Nun war Stalin erst richtig gestorben. Wer entschied denn ab jetzt wirklich, was wir zu tun oder zu lassen hatten? Die Unsicherheit steigerte sich noch, weil uns Nikitin unmißverständlich wissen ließ, daß aus den Hilfen, die der DDR für den Aufbau des Sozialismus ein Jahr zuvor von Stalin versprochen worden waren - und auf sie dringend angewiesen war - nichts würde. Die Sowjetunion plane einen "Neuen Kurs", der auch eine erhebliche Verbesserung des Lebensstandards ihrer Bevölkerung bewirken solle - und dafür müsse sie ihre Möglichkeiten für sich selber voll ausschöpfen. Einen Lichtblick gab es dann aber doch: Auch die DDR solle einen solchen neuen Kurs einleiten - und darüber würden demnächst getrennte Gespräche geführt: Er mit uns über den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs - und die Führer des sowjetischen Politbüros mit Ulbricht und der SED-Führung über die neue politische Linie.

Das geschah Anfang Juni in Moskau, von wo die SED-Führung auch den Text über den neuen Kurs mitbrachte, der am 9. Juni in der SED-Presse veröffentlicht wurde. Die entscheidende politische Passage lautete: "Das Politbüro des ZK der SED ging davon aus, daß seitens der SED und der Regierung der DDR in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurden", worauf die Aufzählung vieler jener Verhärtungen folgte, die mit dem "Aufbau des Sozialismus" seit Herbst 1952 verfügt worden waren. Sie sollten nun zurückgenommen und die "Rechtssicherheit allgemein erhöht" werden. Die Verfügung über die zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen (was ja praktisch eine entsprechende Senkung der Löhne bedeutete) war nicht darunter. Schlimmer: sie wurde in den Begründungen als unerläßlich für den wirtschaftlichen Erfolg des neuen Kurses gerechtfertigt und verteidigt. Daran schaukelten sich die Arbeiterkritiken hoch, bis sie schließlich am 16. Juni zum alles weitere auslösenden Protestmarsch der Bauarbeiter von der Stalinallee zum "Haus der Ministerien" in der Leipziger Straße führten.

Die Gruppe der demonstrierenden Bauarbeiter, denen sich auf dem Weg von der Stalinallee zur Leipziger Straße weitere Demonstranten angeschlossen hatten, erreichte gegen Mittag das "Haus der Ministerien". Sie beabsichtigten, ihr Anliegen Ministerpräsident Grotewohl - und zwar nur ihm - persönlich vorzutragen. Doch es war Dienstag, der Tag der wöchentlichen Politbürositzungen. Grotewohl hielt sich im Parteigebäude in der Wilhelm-Pieck-Straße auf. Die Protestierer hielten die Bemerkung der Pförtner, der Ministerpräsident sei nicht im Hause, für eine Ausrede. Sofort entstand Unruhe. Erste Sprechchöre wurden laut. Sie drangen offenbar bis ins Büro Grotewohl durch, das im Innern des Gebäudekomplexes lag. Von dort erhielt ich den Anruf, mein Chef Leuschner solle "die paar Männecken doch mal beruh'jen". Aber auch der war in der Parteizentrale. Also wurde Industrieminister Selbmann ins Gefecht geschickt. Von diesem Zeitpunkt an ist der beginnende Auf- stand auch durch Wochenschaubilder (das Fernsehen spielte noch keine Rolle) dokumentiert. Selbmann ließ einen Tisch vor das Haus stellen und versuchte, von dort zu den Demonstranten zu sprechen. Er wurde niedergebrüllt, zog sich mit seinen Sicherheitsbegleitern ins Haus zurück und ließ die Türen schließen. Der Zug setzte sich Richtung Alexanderplatz in Bewegung, weitere Demonstranten schlossen sich an, und von nun an wurde nur noch zum Generalstreik für den nächsten Tag aufgerufen.

Als Leuschner am späten Nachmittag aus dem Politbüro kam, wollte er zwar von mir wissen, was sich vor dem Haus zugetragen hatte, war darüber aber wohl auch schon im SED-Gebäude grob unterrichtet worden, schien dem Vorgang jedoch keine allzu große Bedeutung zu geben. Er hatte eine Menge Aufträge mitbekommen, die sowohl mit Fachministern wie mit den Vorsitzenden der 15 Bezirksräte zu erledigen waren, weshalb wir für den Rest des frühen Abends mit der Organisation dieser Sitzung für den nächsten Tag beschäftigt waren. Bei den Anrufen in die Bezirke hörte ich aber, daß auch dort bereits für den nächsten Tag zu Streiks und Demonstrationen aufgerufen wurde, weshalb etliche die Fahrt nach Berlin ablehnen wollten. Wir nahmen auch nicht an einer eilig für den Abend einberufenen Berliner SED-Bezirkskonferenz teil, auf der Grotewohl als Hauptredner sprach, den Beschluß über die Normenerhöhung zurücknahm, während sich Ulbricht völlig zurückhielt. Bei meiner Nachhausefahrt gegen Mitternacht in den südlichen Stadtteil Adlerhof sah ich dann in der Umgebung des Ostbahnhofs, vor den Fabriken in Treptow und in Schöneweide Arbeitertrupps, die Losungen wie "Streik", "Freiheit" oder auch "Freie Wahlen" an Wände pinselten und zum Streik für den nächsten Tag aufriefen.

In der Nacht wurde ich von einer sowjetischen Panzerkolonne aufgeweckt, die sich Richtung Stadtinneres bewegte. Den Weg am Morgen zum Haus der Ministerien schaffte mein Fahrer nur auf Umwegen. In der Leipziger Straße war ein Vorankommen schon kaum noch möglich. Wir fuhren etliche Umwege und kamen doch noch ans Ziel. Auf dem Vorplatz hatten die Angestellten zusammen mit der Polizei eine Viererkette gebildet, die das Haus noch frei hielt. Sie bugsierten uns zum Tor, das schon mit Metallfässern gesichert war. Mit Mühe schleusten sie meinen Wagen noch auf den Hof. Ich war als letzter durchgekommen, dann wurden die Sperren von den Demonstranten so zusammengedrückt, daß sie nur noch als Knäuel vor dem Haupteingang aushielten. Sie und die (meist jungen) Volkspolizisten wurden als "Arbeiterverräter", "Bonzenbüttel" und mit ähnlichen Schmähungen übel beschimpft. Aus den umliegenden Trümmergrundstücken flogen erste Steine. Bis in die zweite Etage gingen Scheiben zu Bruch.

Auch Leuschner hatte das Haus nur auf Umwegen zu Fuß über den Tiergarten erreicht. Zum Glück für ihn gab es damals die Mauer noch nicht. Sein Fahrer hatte sich mit dem auffälligen "Bonzenwagen" mit Blaulicht in die Charité gerettet. Leuschner überspielte die brenzlige und für uns ja eigentlich blamable Situation mit der Forschheit des Chefs, ließ sich auf keine Diskussion ein und trommelte die bestellten Funktionäre im Sitzungsraum zusammen, um das vorgesehene Pensum zu erledigen, als wenn es sich um einen ganz normalen Arbeitstag handelte. Das bestand im wesentlichen aus der Rücknahme all jener Schwerpunkte, die wir im Sommer 1952 von der Verbrauchsgüter- in die Schwerindustrie verlagert hatten, nun in umgekehrter Richtung - selbstverständlich mit nicht geringeren Verheerungen, als sie der "Aufbau des Sozialismus" im Herbst und Winter 1952/53 verursacht hatte.

Gegen Mittag hörten wir die ersten Schüsse und Schreie. Auch da stockte der Sitzungsverlauf nur kurz. Das geschah noch einmal am frühen Nachmittag, als der Aufstand niedergeschlagen war. Da kamen die Schreie aus dem Haus. Nach Verhängung des Kriegsrechts durch den sowjetischen Stadtkommandanten trieben Polizei und Staatssicherheit aufgegriffene Demonstranten prügelnd und tretend in die Keller, von wo sie in der Nacht in die Gefängnisse gefahren wurden. Am nächsten Tag herrschte im Haus der Ministerien fast schon wieder "Normalität". Aber nicht ganz: Vom Vorplatz her hörten wir nun das Hämmern von Zimmerleuten, die für den Abend eine Tribüne für das Politbüro herrichteten, von der aus sich Ulbricht und Genossen wieder ihre Ergebenheitsadressen von "ihrem Apparat" abholten - mit den Sowjetpanzern im Hintergrund!

Nachtrag: Das SED-Politbüro hatte den 17. Juni im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst "abgesessen". Die Russen hatten es dahin in "Sicherheitsverwahrung" genommen. Sie mußten sich von Sowjetbotschafter Semjonow übelste Beschimpfungen anhören und haben auch unter- und gegeneinander erstmals kein Blatt vor den Mund genommen. Im Vorfeld des neuen Kurses glaubten wir, die Zeit von Ulbricht sei zu Ende. Zu unverblümt hatten uns die Sowjetberater befragt, wie denn die Bevölkerung dessen Ablösung aufnähme, was ich (und wie ich hörte, auch alle meiner intimeren Kollegen) mit "positiv" be-antwortet hatte. Distanzierter verhielt sich mein Chef. Leuschner stand auf Ulbrichts Seite im wahrscheinlich entscheidendsten Punkt: Beide hatten nichts gegen einen "Neuen Kurs". Aber beide warnten mit aller Energie vor einer "Fehlerdiskussion". Eine Partei, so ihre These, die sich selber "die Verkörperung der kollektiven Weisheit" nennt, macht keine Fehler! Ein Neuer Kurs, mit der Begründung verkündet, daß die "überwältigenden Erfolge beim Aufbau des Sozialismus" uns nun diese und jene Verbesserungen, Veränderungen und welchen Kurswechsel auch immer erlaubten, dabei aber die Zügel nicht im mindesten zu lockern, hätte das Debakel wahrscheinlich verhindert. Der Aufstand hat Ulbrichts Macht erhalten und sogar noch gefestigt. Die Sowjetpanzer haben die DDR gerettet. Denn ohne ihren Einsatz wäre deren Ende nicht erst am 9. November 1989 erfolgt, sondern am 17. Juni 1953. Uns allen wäre viel erspart geblieben.

"Was sich mit besonderer Klarheit am 17. Juni 1953 darstellte, war die ungeheure Verlogenheit der zweiten deutschen Diktatur, die verehrungswürdige Worte der Humanität und des Fortschritts, der Menschenfreundschaft und Menschenwürde schlicht umdrehte und in den Dienst von Unterdrückung und Unmenschlichkeit stellte. Auch wenn ihre Namen nur wenigen bekannt sind, gehören die Männer und Frauen der Protestbewegung des 17. Juni in das Pantheon der bedeutenden Deutschen, in denen sich die Nation erkennt und in denen sie ihre Vorbilder sieht." Joseph Rovan, französischer Historiker

Rätselhaftes Kunstwerk: Das auf dieser Seite abgebildete Plakat, das uns anonym zugeschickt wurde, erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, von den Verhüllungskünstlern Christo und Jeanne-Claude zu stammen. Unsere Recherchen, unter anderem beim Christo-Experten Matthias Koddenberg, ergaben aber: 1995 hatten Berliner Studenten, in Anlehnung an die Reichstags-Verhüllung, einen Panzer des sowjetischen Siegesdenkmals an der Straße des 17. Juni verhüllt und davon eine Collage gefertigt. Eine gelungene und eindrucksvolle Arbeit, auch wenn sie nicht von dem berühmten bulgarisch-französischen Künstlerpaar geschaffen wurde. H.J.M.