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21.06.03 / Thorsten Hinz über den mißbrauchten und mißverstandenen 17. Juni 1953

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 21. Juni 2003


Ein deutsches Waisenkind
Thorsten Hinz über den mißbrauchten und mißverstandenen 17. Juni 1953

Gewiß, man hat sich Mühe gegeben, an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zu erinnern. Es gab Podiumsdiskussionen, Filme, Fernsehrunden, Radiofeatures, Ausstellungen. Bücher sind erschienen, Zeitzeugen wurden aufgeboten, und diverse Behörden und Stiftungen haben Websites im Internet plaziert. Doch die meisten solcher Veranstaltungen und Publikationen haben es an sich, daß sie nur von denjenigen wahrgenommen werden, die sich ohnehin für die Thematik interessieren. Deshalb sind Zweifel angebracht, daß es gelungen ist, den 17. Juni als ein markantes Datum ins allgemeine Bewußtsein zu pflanzen. Nur 17 Prozent der deutschen Jugendlichen, so die Umfragen im Vorfeld, konnten mit dem Tag überhaupt etwas anfangen. Kein Wunder, denn in den Schulen wird dieses Ereignis nur kurz abgehandelt. Und man muß befürchten, daß auch die jüngsten Aktivitäten untergegangen sind im Medienrauschen über Irak-Krieg, Rentendebatten und Attentate. Dieses freiheitliche Datum bleibt vorerst, was es bisher gewesen war: ein deutsches Waisenkind.

Daß die DDR es bis zu ihrem Ende nicht adoptieren mochte, ist plausibel. Die Revolte war die Delegitimation des SED-Regimes. Keine ideologischen Kunstgriffe konnten mehr verbergen, was in brachialer Weise offenbar geworden war: Die Macht der SED beruhte ausschließlich auf russischen Panzern, ihre Parteiführer waren "Quislinge" - Kollaborateure einer Besatzungsmacht. Eine historische Forschung zum 17. Juni durfte es nicht geben, die Akten lagen unter Verschluß, die Geschichtsbücher vermerkten knapp, es habe sich um einen "faschistischen Putsch" gehandelt, provoziert von westlichen Geheimdiensten, die eine temporäre Unzufriedenheit über kleine Fehler der Partei ausgenutzt hätten, die schon längst korrigiert waren.

Doch das Trauma blieb. Wie aus der Tiefe seines schlechten Gewissens fragte Erich Mielke 1989 in der Dienstbesprechung seines Stasi-Ministeriums: "Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?" Ein Trauma blieb auch in der Bevölkerung zurück, die erkennen mußte, daß die europäischen Nachkriegskonstellationen sie zur Machtlosigkeit verurteilten. Nur in mündlicher Form wurden die Erinnerungen weitergetragen an "damals, als die Genossen wie aufgescheuchte Hühner weggelaufen sind", meistens in Bierlaune und unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Von den Intellektuellen, soweit sie in der DDR blieben, nahmen nur wenige die Ereignisse zum Anlaß, das Band der falschen Loyalitäten zu zerschneiden. Das trifft auch auf die Regimekritiker zu. Ihr Nestor Robert Havemann verbreitete noch 1970, bei aller anfänglichen Berechtigung hätte die Revolte "objektiv konterrevolutionäre Formen" angenommen, also sei sie zu Recht gescheitert. Stefan Heyms Roman "Fünf Tage im Juni" (bekannt geworden auch als "Tag X") wurde zwar viel beredet, was aber auf der Tatsache beruhte, daß die bornierte SED-Führung sein Erscheinen in der DDR untersagte. Dabei handelte es sich um eine brave Story aus dem Geiste des Marxismus-Leninismus, die die SED-Herrschaft nicht prinzipiell in Frage stellte.

Auch den Bürgerrechtsgruppen der achtziger Jahre blieb der nationale und soziale Impuls des Volksaufstands fremd, was 1989 ein Grund für ihre rasche Marginalisierung war. Zum Teil hatten sie sogar die offizielle Lesart übernommen. Schließlich wetteiferten sie mit der SED um den Anspruch, den echten, den humanen Sozialismus zu errichten. Folglich konnte der 17. Juni, der in der Konsequenz den sozialistischen Staat negierte, für sie nicht traditionsstiftend sein. Die DDR-Bürgerrechtler trafen sich in ihrem Desinteresse mit der 68er Linken im Westen, die einerseits verzweifelt nach einer Arbeiterklasse Ausschau hielt, für die sie die Avantgarde spielen konnte, den 17. Juni aber partout nicht annehmen wollte. Der Aufstand wandte sich auch in ihren Augen gegen die Fortschrittsutopie, die die DDR - wie schlecht auch immer - zu praktizieren versucht habe. Aus dieser Perspektive erschien der Tag als Aufstand gegen die geschichtliche Vernunft.

Ein Sonderfall war West-Berlin, wo die Anteilnahme groß und natürlich war. Schließlich hing das Wohl und Wehe der Inselstadt weitgehend von den Zuständen im natürlichen Umland ab. Aber sonst? Der Bundestag erklärte den 17. Juni einen Monat danach zum "Tag der Deutschen Einheit". Alljährlich wurden im Hohen Haus Reden gehalten, von den bedeutendsten Historikern des Landes, von Ministern und Bundespräsidenten. 1964 sprach Theodor Schieder davon, daß dieser "Tag unsere geschichtliche Rehabilitation als Nation" und die Rettung der "tief gekränkten moralischen Autorität des deutschen Namens" beinhalte. Wohl wahr, aber hinter solch hochtönenden Worten stand die Absicht, den 17. Juni für die moralische Begründung der Bundesrepublik zu vereinnahmen. Nach dem Mauerbau verlor der 17. Juni in der Bevölkerung den emotionalen Rückhalt. Er bot Gelegenheit für ein verlängertes Wochenende und war im übrigen ein "Tag entspannender Gedankenlosigkeit", so der bekannte Literaturkritiker Fried-rich Sieburg schon 1958.

Auch die Politiker in Bonn verdrängten die Ereignisse und die Bedeutung des 17. Juni. Die "Organisation Gehlen", Vorläuferin des BND, glaubte wie die SED an seine Fernsteuerung. Darin traf sie sich mit Adenauer, der zunächst verbreiten ließ, es handele sich um eine Provokation der Sowjets. Menschen, die sich spontan gegen ein Unrecht auflehnten, das sich "Staat" nannte, paßten weder dem Osten noch dem Westen ins Konzept. Man redete die Vorgänge klein. In Arnulf Barings Dissertation aus dem Jahr 1956, die lange das Standardwerk zum Thema blieb, heißt es: "Der Aufstand ist nicht durch sowjetische Truppen niedergeschlagen worden. Aufs Ganze gesehen war die revolutionäre Welle schon gebrochen, bevor die Russen aufmarschierten." Was für ein Irrtum! Ohne das Eingreifen der russischen Armee wäre das SED-Regime von der Bühne gefegt worden!

Die SED hatte den "Werktätigen", insbesondere den Arbeitern in der DDR, stets versichert, sie seien die "herrschende Klasse", die Partei würde die Macht lediglich treuhänderisch verwalten. Sie mußte 1953 erleben, daß das Selbstbewußtsein, welches sie so geweckt hatte, sich gegen sie wandte. Der 17. Juni war nicht nur der Aufstand gegen eine Partei, sondern ein emanzipatorischer Akt gegen die obrigkeitsstaatliche Tradition in Deutschland überhaupt. Hier liegt die anhaltende Brisanz des 17. Juni 1953, die auch im Westen nur wenigen gefiel.

1989 hielt der SPD-Politiker Erhard Eppler eine der politischsten Ansprachen, die je zu diesem Anlaß gehalten wurden. Erst zwei Jahre zuvor hatte er mit der SED ein Gemeinsames Papier vereinbart, in dem beide Seiten sich Demokratie- und Reformfähigkeit konzedierten. Nun ließ er seinem Zorn darüber freien Lauf, daß die SED-Führung sich noch angesichts von Gorbatschows "Perestroika" und der beginnenden Massenflucht über Ungarn in einer poststalinistischen Wagenburg verschanzte. Er machte "so etwas wie Existenzangst" bei ihr aus. Die sei "nur allzu verständlich", denn die DDR sei "begründet in der Sprache der Staatspartei, in sozialen, ideologischen, nicht nationalen Kate- gorien". Auch in Deutschland könne der "Eiserne Vorhang rascher als erwartet durchrosten". In diesem Kontext wurde, was in den Jahren davor bloß Lippenbekenntnis gewesen war, plötzlich zum Donnerwort: "Die Deutschen haben, wie alle Völker, ein Recht auf Selbstbestimmung."

Aber was hieß Selbstbestimmung? Gleich nach dem kühnen Vorstoß stellte Eppler klar, daß er kein gemeinsames Neues meinte. Deutschlandpolitik könne nur auf der Grundlage des "westlichen Wertekatalogs" erfolgen. Da er eine Interpretation des Katalogs vermied, konnte nur die Ausweitung des bundesdeutschen Status quo gemeint sein. Damit verweigerte Eppler sich der Einsicht, daß der Grundsatz: "Freiheit geht vor Einheit", der jahrzehntelang den Willen zur Selbstbehauptung gegenüber der Sowjetunion ausdrückte (und der virtuell auch den DDR-Bürgern zugute kommen konnte), inzwischen auf die Verteidigung eines obrigkeitsstaatlichen, postnational und antifaschistisch ausgerichteten BRD-Etatismus hinauslief, der längst unbeweglich und reaktionär geworden war und selber nach Reformen rief. Dazu paßt, daß gleich nach dem Vollzug der staatlichen Einheit der 17. Juni als Feiertag abgeschafft wurde.

Im Grunde war Eppler der nationale Impuls, der sich 1953 Bahn gebrochen hatte, unangenehm, ja peinlich. Damit traf er den Nerv der Zeit beziehungsweise den der gesellschaftlichen Eliten. Es ist ein offenes Geheimnis, daß schon Adenauer sich von dem Aufstand gestört fühlte. Hätte er Erfolg gehabt, das heißt, wären die russischen Panzer in den Kasernen geblieben, wäre seine Politik der Westbindung in unkalkulierbare Schwierigkeiten geraten. Die deutsche Einheit war gut und schön, aber erst mußte die Bundesrepublik im Westen verankert sein. Damit erinnert der 17. Juni an ein bis heute nicht aufgearbeitetes deutsch-deutsches Trauma: Der Preis für die Westbindung des Bonner Staates war die anhaltende Unterjochung der DDR-Bevölkerung. Und Bonn war bereit, sie den Preis zahlen zu lassen. Diese Entscheidung mag alternativlos gewesen sein, aber wenigstens stand sie am Ende von eigenen Erwägungen, zu denen die DDR-Bürger ihrerseits nie die Möglichkeit hatten. Im Ergebnis wohnte dem 17. Juni von Anfang an jener gräßliche Geschichtsfatalismus inne, den Georg Büchner in die Worte gefaßt hatte: "... ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich." Will man dieses deutsch-deutsche Knäuel aus Fatalismus und Schuld überhaupt wahrhaben?

Diese Frage hätte in einer großen, in ihrer Dimension der Wehrmachtsschau von Reemtsma vergleichbaren Wanderausstellung thematisiert werden müssen. Diese Ausstellung hätte im Zentrum aller Öffentlichkeitsarbeit stehen und in Berlin, dem Epizentrum des Geschehens, ihren Schlußpunkt finden müssen. So wäre der Atem dieser freiheitlichen Bewegung in ein sinnlich erfahrbares, gemeinschaftliches Erlebnis transformiert worden. In Berlin raffte sich aber nur die Akademie der Künste zu einer Ausstellung auf, die in einem schmalen Korridor im dritten Stock des Archivgebäudes über die Reaktionen der DDR-Schriftsteller informiert. Man erfährt, was man sowieso schon wußte: Den Autoren fiel nichts ein. Entsprechend blödsinnig lautet der Titel: "Volksaufstand oder Konterrevolution?"

Bleiben die Versuche von ARD und ZDF, dem Ereignis im Film gerecht zu werden. Solche Projekte werfen prinzipielle Fragen auf. Zum Beispiel: Läßt sich in einem massenkompatiblen Fernsehfilm die Tatsache darstellen, daß die Aufständischen - noch einmal Büchner - "nur Schaum auf der Welle" der Weltgeschichte waren? Das Publikum will unterhaltsame Helden sehen, keine Marionetten des Fatums.

Es ist kein Zufall, daß Hans-Christoph Blumenbergs Doku-Drama "Der Aufstand" (ZDF) der beste Beitrag war. Der Film hielt sich - das liegt in der Natur des Genres - dicht am tatsächlichen Verlauf der Ereignisse. Die chronologischen Abfolgen wurden beachtet, Zeitzeugen befragt und Ereignisse von der ersten Demonstration bis zu den protokollierten Sitzungen des SED-Politbüros nachgespielt. Die Leistung der Autoren, Schauspieler und Filmtechniker war großartig. Und: Was für ein großer Stoff! Doch Doku-Dramen können nur informieren, illustrieren, aber nicht zur Empathie einladen. Das ist die Aufgabe von Spielfilmen.

In "Tage des Sturms", produziert vom MDR und ausgestrahlt von der ARD, ist es gelungen, den Fatalismus, der den Subtext der Ereignisse bildete, dadurch einzufangen, daß auf politische Deklamationen weitgehend verzichtet und dafür das Milieu der "kleinen Leute" im mitteldeutschen Industrierevier detailgenau abgebildet wurde. Das Erhabene dieser Tage bestand darin, daß die Menschen die realpolitischen Gegebenheiten verkannten oder ignorierten und im Namen ihrer Würde spontan aufbegehrten. Vieles war trivial, aber wenn der Film trotzdem sehenswert war, lag das an der Regie, die den Schauspielern genügend Freiheit ließ, um aus den hölzernen Vorgaben lebendige Personen zu machen. Andererseits kam der weltpolitische Rahmen allzu knapp ins Blickfeld, aber hier stieß das Prinzip des epischen Erzählens sich an den Grenzen des 90-Minuten-Formats. Man war am Ende nicht unzufrieden, dachte aber dar-über nach, was Hollywood wohl daraus gemacht hätte.

Peter Keglevic hat es in "Zwei Tage Hoffnung" (ARD) mit großer Dramatik versucht. Diesseits und jenseits der Berliner Sektorengrenze belauern sich Vopos und Reporter vom West-Berliner RIAS. Ein Mann überschreitet nervös die Brücke, Räder kreischen, eine schwarze Stasi-Limousine, heraus springt ein Greifkommando, die Aktentasche mit brisantem Material fliegt in die Spree ... Das Ergebnis war eine Mischung aus "Lindenstraße" und schlechtem "Tatort". Berlin gab den Schauplatz ab, war aber bloß Pappkulisse, geschichtliches Niemandsland. Die Bauarbeiter, die zum Regierungssitz zogen, glichen er- schöpften Kaffeefahrern, die sich durch die Lüneburger Heide zum Heidschnuckenessen schleppen. Deutlicher läßt sich die Ignoranz des deutschen Gegenwartsfilms gegenüber deutscher Geschichte und Filmtradition kaum darstellen. Hauptverantwortlich für diese Peinlichkeit waren der WDR und SWR.

Die beiden Filme zeigten auf ihre Weise, daß der 17. Juni noch längst nicht zum Fixpunkt einer positiven, kollektiven Identität geworden ist. Das Jahr 1989 hat daran nichts geändert. Wer nach den Gründen fragt, muß bedenken, daß der Sturz der SED durch die Massenflucht ausgelöst wurde, einer Summe aus unzähligen, resignativen und isolierten Einzelentscheidungen, die sich zu keinem triumphalen, politischen Willen mehr bündeln ließen. Was danach noch kam, war die Implosion eines Staatsgebildes, keine Emanzipation der Gesellschaft. Für eine politische, soziale und mentale Befreiung, die auch den Westen hätte inspirieren können, war die Zeit zwischen der ersten Massendemonstration in Leipzig und dem Mauerfall zu kurz. Schließlich traten knapp 17 Millionen verunsicherte Landsleute einem Staat bei, der zwar reich, innerlich aber abgestorben und kaum weniger verunsichert war. Heute stehen Ost und West gemeinsam vor dem materiellen und geistigen Offenbarungseid.

Der 17. Juni 1953 weckt also nicht nur Stolz. Er mahnt an Unvollendetes und feige Versäumtes und löst deshalb auch Scham aus. Einheit und Freiheit Deutschlands aber lassen sich nur voranbringen, wenn seine Bürger bereit sind, dieses freiheitliche Datum sowie den Stolz und die Scham, die sich daran knüpfen, von ganzem Herzen anzunehmen. Aber dazu muß man wohl bis zum 60. Jahrestag warten.

Legendenbildung? Am ersten Jahrestag des Volksaufstandes wurde ein Gedenkstein für die russischen Soldaten, die erschossen wurden, weil sie sich weigerten, auf deutsche Arbeiter am 17. Juni 1953 zu schießen, eingeweiht. Bis heute konnte allerdings nicht nachgewiesen werden, ob diese Erschießungen wirklich stattfanden oder nur Propaganda des kalten Krieges waren. Foto: keystone