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21.06.03 / Der Löwe am Brunnen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 21. Juni 2003


Der Löwe am Brunnen
Von Gabriele Lins

Eines Tages war er da. Ob es nun in Strömen regnete oder die Sonne schien, er saß da, mitten auf dem Marktplatz, hatte seine gelben Augen auf einen bestimmten Punkt in der Ferne gerichtet, und sein Schwanz bewegte sich einmal rechts, einmal links und einmal von oben nach unten, immer in der gleichen Reihenfolge.

Er bot einen ungewöhnlichen Anblick, dieser Löwe auf dem Marktplatz, dicht neben dem Brunnen sitzend, der von der Figur des heiligen Franziskus überragt wurde. Ungewöhnlich war auch die Farbe seines Felles, es war grasgrün und hatte überall schwarze Punkte. Die Leute hatten Angst vor ihm, sie standen in sicherer Entfernung oder lagen in den Fenstern ihrer Häuser und beobachteten ihn. Er war ihnen nicht geheuer. Wo gibt es so was, ein Löwe mit grünem Fell und schwarzen Punkten darauf, der einfach so dasitzt? Sicher war er gefährlich. Man sollte besser die Feuerwehr holen, oder kompetente Männer aus dem Zoo, die sich mit großen Katzen auskennen, meinten einige. Tierpsychologen seien auch nicht falsch.

Aber das Tier saß nur da und schwenkte seinen Schwanz, einmal rechts, einmal links und einmal von oben nach unten und starrte in die Ferne, und nach etwa 10 Minuten ging es mit dem weichen, geschmeidigen Gang einer Katze davon. Sobald es weg war, strömten die Leute zusammen, gestikulierten und gakkerten und raunten und waren außer sich.

Vier Wochen waren schon vergangen, und das seltsame Tier kam noch immer auf den Marktplatz, jeden Tag zwischen drei und fünf. Es saß still da und starrte in die Ferne. Kinder lockten ihn mit Fleischknochen oder Wurstscheiben, den Löwen kümmerte es nicht, er sah nicht einmal hin. Ein verwegener junger Kerl warf einen Stein nach ihm und traf ihn am Ohr, aber der Löwe zuckte nicht einmal zusammen und fauchte auch nicht.

Schließlich gewöhnte man sich an ihn, und niemand hatte mehr Angst. Das Leben in der Kleinstadt normalisierte sich wieder. Die Leute gingen sorglos wie eh und je einkaufen, und die Kinder spielten am Brunnen ihre kleinen Spiele. Kam der Löwe, störte man sich nicht weiter an ihm. Zuerst hatten ihm die Kinder noch kurz über die Mähne gestrichen, aber da er nicht reagierte, ließen sie es bald sein. Er gehörte nun zum Alltag der Menschen wie die steinerne Figur des heiligen Franziskus über dem Brunnen, er war da und auch wieder nicht.

Bis er eines Tages wegblieb. Es schlug drei, es schlug vier, kein Löwe kam mit katzenhaft geschmeidigem Gang, um sich am Brunnen niederzulassen. Bestürzt sahen die Leute auf ihre Uhren. "Wo bleibt er denn?" Die Stimmen wurden immer lauter, man hörte die Sorge um das Tier heraus. War etwas mit ihm geschehen? Hatte es jemand gefangen, vielleicht sogar getötet?

Die Geschichte wurde in allen Medien verbreitet. Die Zeitungen berichteten, im Fernsehen stellte man Prognosen an: "Kommt er morgen wieder oder erst in vier Wochen oder überhaupt nicht mehr?" - "Unser geliebter Löwe" hieß es im Lokalblatt des Städtchens. Sein Bild hatte den Adler im Stadtwappen längst verdrängt. Die Kinder in der Schule malten nur noch Löwen, grasgrüne Löwen mit schwarzen Punkten. Die Bäcker stellten Löwen aus Kuchenteig her; für die Punkte auf dem Fell mußten die süßen bunten Plättchen herhalten, die man Smartys nennt. Die Teilchen fanden reißenden Absatz. Die Dichter schrieben Verse, sogar Romane. Dabei konnte man so schön um das Tier trauern. Man pilgerte an den Brunnen und betete zum heiligen Franziskus, dem Freund aller Tiere, er möge sich doch um ihr Wappentier kümmern. Der berühmteste Bildhauer des Landes schuf das Standbild eines marmornen Löwen, dessen Blick in die Ferne gerichtet war und dessen Schwanz wie in Bewegung etwas nach rechts stand.

Nach einem Vierteljahr etwa saß er wieder am Brunnen, der grüne, schwarzgepunktete Löwe mit dem in die Ferne gerichteten Blick, und sein Schwanz wedelte einmal rechts, einmal links und einmal von oben nach unten, immer in der gleichen Reihenfolge. Doch kein Mensch kümmerte sich mehr um ihn. Man hatte ihn doch gerade vergessen. Der steinerne Löwe am Stadtrand war viel beständiger. Er lief niemals weg, und man mußte nicht fürchten, daß er je verschwände.

Als der lebendige Löwe dieses Mal aufstand und langsam davonging, sah man ihm nicht einmal hinterher. Er war doch ziemlich langweilig, dieser Löwe am Brunnen, der nicht fauchte, nicht fraß, der auf gar nichts reagierte, ein Tier, das da war und auch wieder nicht, nicht wert sich aufzuregen. Der Löwe kam nie wieder, und den Leuten in der Stadt fiel es nicht einmal auf.

 

Mein Morgentraum
Von Christel Poepke

Die vorlauten

Spatzenstimmen

aus

Nachbars Kirschgarten

ritzen

meinen Morgentraum

und versprechen mir

einen

hübschen Tag.

O, wüßten sie nur.

wie bilderbuchschön

mein Morgentraum war.