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28.06.03 / Aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages: Endlich Anerkennung des deutschen Leides?

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 28. Juni 2003


Aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages:
Endlich Anerkennung des deutschen Leides?

Nach einem Antrag der CDU/CSU ist das Thema "Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter" im Bundestag erneut diskutiert worden. Die Eingangsrede des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann haben wir an dieser Stelle dokumentiert. Da es an diesem Tag allerdings zu keiner Einigung zwischen den Parteien kam, wurde dieser Tagesordnungspunkt an mehrere Ausschüsse des Bundestages zur intensiveren Behandlung überwiesen.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Martin Hohmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Martin Hohmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!

Dieses Land ist stark geworden und wird stark bleiben, wenn es im Innern gerecht zugeht.

Das sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 6. August 2002.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Max Stadler [FDP]: Haben Sie seine Rede dabei?)

Ob es gerecht zugeht, darüber kann man grübeln und Bücher schreiben. Wir als Politiker sollen nach Sehen und Beurteilen handeln. Zu den wichtigsten Leitbegriffen beim Handeln gehört in der Tat Gerechtigkeit. "Gerechtigkeit" war auch bei der Rede von Gerhard Schröder als SPD-Vorsitzendem zum 140jährigen Jubiläum der SPD ein häufig gebrauchtes Wort.

(Ute Kumpf [SPD]: Waren Sie dabei?)

- Es ist ausreichend berichtet worden. - Ich darf einige Zitate bringen:

Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit - diese Grundwerte von damals sind unsere Werte von heute. Daran wird sich nichts ändern.

Oder:

Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit - das sind für uns keine statischen Begriffe. Alle drei sind Voraussetzung füreinander und stehen in Beziehung zueinander.

Oder:

Wir sagen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit und ohne Freiheit keine Solidarität.

Ich komme zu den Grünen. Fast zur gleichen Zeit, im Mai 2003, faßte der Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen einen Beschluß für die Bundesdelegiertenkonferenz in Cottbus. Auch darin war die Gerechtigkeit ein häufiger Gast. Sie trat als einfache Gerechtigkeit, als Geschlechtergerechtigkeit und als internationale Gerechtigkeit auf.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Generationengerechtigkeit!)

Weil Rot und Grün die Gerechtigkeit so herausstellen, schöpfen wir Hoffnung. Wir haben neue Zuversicht, mit unserem Antrag zur Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter gemeinsam voranzukommen. Denn Gerechtigkeit verlangt im Kern: gleiches Leid, gleiche Entschädigung. Menschenrechte sind unteilbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was wollen wir mit unserem Antrag erreichen? - Gerechtigkeit. Im einzelnen möchten wir die Bundesregierung auffordern, "einen Gesetzentwurf zu erarbeiten und ... vorzulegen, der eine humanitäre Geste für Personen vorsieht, die als Zivilpersonen aufgrund ihrer deutschen Staats- oder Volkszugehörigkeit durch fremde Staatsgewalt während des Zweiten Weltkrieges und danach" Zwangsarbeit leisten mußten. Wir bitten für die deutschen Opfer von Zwangsarbeit um "eine Einmalzahlung, vergleichbar der für die NS-Zwangsarbeiter geschaffenen Regelung". Wir ersuchen die Bundesregierung, "die Anzahl der nach einem solchen Gesetz Antragsberechtigten zu ermitteln", einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erstellen und die finanzielle Ausstattung des Fonds zu regeln.

Bei alledem ist zu bedenken, daß die Opfer von Zwangsarbeit sich in einem sehr fortgeschrittenen Alter befinden. Die Zeit drängt. Eine schnelle Regelung ist nötig.

Um eine Regelung auch für deutsche Zwangsarbeiter bemüht sich die Union im Bundestag seit Schaffung der NS-Zwangsarbeiter-Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Im einzelnen sind hier Fragen und Initiativen von verschiedenen Unionsabgeordneten zu nennen. Bisher haben wir von Ihnen leider nur abschlägige Antworten erhalten. Dennoch resignieren wir nicht. Wir haben einen langen Atem. Wir kämpfen für eine gerechte Sache und wir wissen, daß wir heute in einer anderen Situation sind.

Warum? Die Einschätzung und Bewertung der deutschen Heimatvertriebenen unterlag nach dem Krieg starken Schwankungen. Während zunächst alle Parteien den Vertriebenen und Flüchtlingen ein Rückkehrrecht quasi selbstverständlich einräumten, weil man sich eine endgültige Vertreibung von 15 Millionen Menschen nicht vorstellen konnte, gab es seit der Ostpolitik von Willy Brandt Dissonanzen. Die Anerkennung der machtpolitisch geschaffenen Fakten nahm den Heimatvertriebenen letzte vage Hoffnungen.

(Sebastian Edathy [SPD]: Auf was?)

Damit standen die Heimatvertriebenen und die sogenannten fortschrittlichen und linken Kräfte, mit ihnen die SPD, seit den 70er Jahren eher unversöhnlich in verschiedenen politischen Lagern. Ausgrenzungen und Abgrenzungen verschärften den Streit ebenso wie die nationale Ich-Schwäche, die besonders von der neu aufgekommenen Partei der Grünen hingebungsvoll gepflegt wurde.

(Sebastian Edathy [SPD]: Nationale Ich-Schwäche? Herr Hohmann, Sie reden mal wieder an der Sache vorbei!)

So waren noch im Mai 1990 Claudia Roth und Angelika Beer als Demonstrantinnen hinter einem Transparent

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für eine schräge Rede?)

- hören Sie bitte zu - mit der Aufschrift "Nie wieder Deutschland!" zu finden. Das hat sie nicht gehindert, zur gleichen Zeit als Abgeordnete des Deutschen Bundestages

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geht es jetzt um Zwangsarbeiter oder geht es um nationale Identität?)

das nicht unbeträchtliche Bundestagssalär zu beziehen.

(Sebastian Edathy [SPD]: Herr Hohmann, jetzt wird es aber unsachlich!)

Gerade bei den Grünen - heute: Bündnis 90/Die Grünen - wurde lange ein liebgewordenes Bild gepflegt: die Gleichsetzung der Vertriebenen mit dem äußerst rechten Spektrum der Politik, mit Revanchisten und Chauvinisten. Zwar hat es vereinzelte schrille Stimmen aus dem Bereich der Vertriebenen gegeben. Mit übergroßer Mehrheit gehörten die Vertriebenen jedoch von Anfang an zu dem wertvollen und tatkräftigen Aufbaupotential unseres demokratischen Staates. Nicht zu vergessen ist insbesondere die Charta der Vertriebenen. Mit ihr verzichteten die Vertriebenen bereits im April 1950 auf Revanche und Gewalt und verpflichteten sich, am Aufbau eines friedlichen Europas mitzuwirken.

Die Grünen sollten daher ihr fortwirkendes Negativbild und ihr altes Feindbild ablegen. Erst recht muß mit der Unterstellung Schluß sein, daß, wer an das Elend der Vertreibung erinnere, den Holocaust verharmlose.

(Beifall bei der CDU/CSU - Sebastian Edathy [SPD]: Das hat aber mit dem Antrag nichts zu tun!)

Neue Hoffnung gibt hier - ich sage viel Gutes über ihn - Innenminister Otto Schily. Er hat sich, das sei dankbar angemerkt, mehrfach mit Offenheit und Sensibilität dem Schicksal unserer Vertriebenen zugewandt.

Meine Damen und Herren, wenn ich zuvor gesagt habe, wir seien heute in einer neuen Situation, so bezieht sich das auf eine neue öffentliche Wahrnehmung des Vertreibungsschicksals. Lassen Sie mich stellvertretend drei Namen nennen: Professor Dr. Guido Knopp ist es gelungen, besonders mit seinen Fernsehbeiträgen zur deutschen Zeitgeschichte, neues Interesse für die Zeit des Zweiten Weltkrieges, seine Täter und seine Opfer zu wecken. Dr. Jörg Friedrich hat mit seinem Buch "Der Brand" erstmals die Perspektive der mehr als 600.000 zivilen Opfer des Bombenkrieges in den Mittelpunkt gerückt. Schließlich hat die Novelle "Im Krebsgang" des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass den Untergang des Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff" thematisiert.

Damit lebten die deutschen Schicksale aus der Schreckenszeit des ausgehenden Krieges wieder auf. Vielen wurde klar, daß ein Verschleppungsschicksal jeden treffen konnte, der sich im sowjetischen Machtbereich aufhielt. Um die Sollzahlen an Arbeitssklaven für die Lager des Gulag zu erfüllen, wurde der zwölfjährige Junge aus Breslau ebenso eingefangen wie die 17jährige Oberschülerin aus der S-Bahn in Berlin-Mahlsdorf.

Diese neue Betroffenheit ist meßbar. Sie ist demoskopisch erfaßt worden. Vor zwei Monaten hat das Emnid-Institut auf die Frage, ob auch deutsche Zivilisten, die Zwangsarbeit leisten mußten, eine Entschädigung oder eine Geste der Wiedergutmachung erhalten sollten, eine Zustimmung von 80 Prozent registriert. In den östlichen Bundesländern lag die Zustimmung für das Anliegen unseres Antrages sogar bei fast 90 Prozent.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Heute fragen insbesondere junge Menschen nach Flucht, Vertreibung und Verschleppung. Sie wollen die ganze Wahrheit wissen. Diese Wahrheit ist entsetzlich.

Wahrheit ist: Es hat rund zwei Millionen deutsche Zwangsarbeiter gegeben. Wahrheit ist: Rund die Hälfte von ihnen hat nicht überlebt. Wahrheit ist: Besonders viele Frauen und nicht wenige Kinder wurden Opfer der Zwangsarbeit. Wahrheit ist: Die meisten von diesen Frauen waren sexuelles Freiwild für die enthemmte aufgehetzte Soldateska.

Entwürdigung und Demütigung waren neben Hunger und Kälte Schicksal dieser Frauen. Ich zitiere aus dem Buch von Freya Klier, "Verschleppt ans Ende der Welt":

"... und wenn das nicht schnell genug ging mit dem Hacken, dann wurde zur Abschreckung mal eine erschossen ... Und zwischenrein wurden immer wieder Frauen zum Vergewaltigen weggezerrt ... Das Erschütterndste aber, so erzählte mir meine Mutter mal, als ich erwachsen war, das waren die Frauenleichen, die man so übel zugerichtet hatte ... Eine Frau, die hatte gerade entbunden, da lag das Neugeborene daneben und der Frau - sie war schon steif gefroren - steckte ein Stock in der Scheide ... Der Anblick hat meine Mutter ihr Leben lang verfolgt, trotz allem, was wir selbst durchmachen mußten."

Das war kein Einzelfall. Vergewaltigung, Hunger, Entkräftung und Tod betrafen die Mehrheit dieser Frauen, die Kinder nicht zu vergessen.

Ich bin sicher, auch Sie von den Regierungsfraktionen lassen diese Schicksale und dieses grausame Leid nicht gleichgültig. Sie haben für unsere deutschen Landsleute keinen Stein an der Stelle des Herzens. Sie haben erkannt, daß es noch lange keine Vergötzung der Nation bedeutet, denjenigen einen Ausgleich zukommen zu lassen, die stellvertretend für diese Nation leiden mußten. Sie waren die Deutschen, derer man habhaft werden konnte. Sie waren die Deutschen, die alles abbüßen mußten. Sie waren die Deutschen, an denen die Rachegefühle abgearbeitet wurden. Gemeinsam haben wir die Pflicht, diesen nun alten Überlebenden etwas von ihrer Würde wiederzugeben.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend auf die eingangs zitierten Kernbegriffe sozialdemokratischen und grünen Selbstverständnisses zurückkommen, auf Gerechtigkeit und Solidarität. Unter neuen Umständen stehen diese Begriffe neu auf dem Prüfstand. Es kann nicht sein, daß die IOM, die International Organisation for Migration, in der ganzen weiten Welt nach NS-Zwangsarbeitern sucht, um sie zu entschädigen, und daß wir die deutschen Zwangsarbeiter vor unserer eigenen Haustür im Regen stehen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es kann nicht sein, daß für diese kleine Minderheit alter Menschen die Leitbegriffe Solidarität und Gerechtigkeit politische Leerformeln bleiben. Das wäre ideologisch gepanzerte Kälte. Das wäre die Ent-tarnung der von Bundeskanzler Schröder initiierten NS-Zwangs-

arbeiterentschädigung als Polittheater.

Es kann nur eine Gerechtigkeit und nur eine Menschenwürde geben. Wir von der Union haben die NS-Zwangsarbeiterentschädigung in der Hoffnung mitgetragen, daß die jetzige Regierung auch für deutsche Zwangsarbeiter etwas Konkretes tut. Mitleid reicht nicht. Als Unionspolitiker appellieren wir an die Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen: Dieses Land wird nur stark bleiben, wenn es im Innern gerecht zugeht. Wir verlangen Gerechtigkeit und Mitempfinden, auch für deutsche Zwangsarbeiter.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Martin Hohmann

Ort hitziger Diskussionen: Plenum im Reichstagsgebäude Fotos (2): Bundestag