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28.06.03 / Neubelgern: ein Fleckchen Schlesien in der Lausitz

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 28. Juni 2003


Geschichten zur Vertreibung: Mikroskopische Blicke
Neubelgern: ein Fleckchen Schlesien in der Lausitz
von Martin Schmidt

Im Zusammenhang mit dem 50jährigen Jubiläum des 17. Juni wurde darauf hingewiesen, daß hierzu in unserer nationalen Erinnerung konkrete Einzelschicksale und Handlungsorte fehlen.

Das stimmt, denn wer kann schon Aktivisten des mitteldeutschen Volksaufstandes von 1953 beim Namen nennen oder, abgesehen vielleicht von der damaligen Stalinallee (heute: Frankfurter Allee) oder dem Potsdamer Platz in Berlin, Brennpunkte des Geschehens anführen.

Der mikroskopische Blick oder anders ausgedrückt: die Betrachtung des Gesamtgeschehens anhand von Einzelschicksalen und bestimmten Orten ist das Salz in der historischen Suppe, ohne das die Beschäftigung mit der Vergangenheit des eigenen Volkes und Landes für den Normalbürger nur schwer - oft zu schwer - verdaulich ist.

Das gilt zum Teil auch für das Massenschicksal der Vertreibung der Ostdeutschen aus Pommern, Schlesien, Ostpreußen usw. Zwar gibt es dazu eine reichhaltige Erinnerungsliteratur von Betroffenen. Jedoch wird diese heutzutage leider kaum mehr wahrgenommen, zumal die Masse der Bevölkerung immer weniger liest.

Die jüngste "Welle" von Fernsehsendungen zur Vertreibung bedeutete angesichts der um sich greifenden Geschichtslosigkeit und des fortschreitenden Dahinsterbens der Erlebnisgeneration wohl kein Frühlingserwachen für das kollektive Bewußtsein des Vertreibungsunrechts, sondern eher einen Altweibersommer.

Die Chancen für eine Wiederbelebung der nationalen Erinnerung an den 17. Juni 1953 stehen dagegen ungleich besser: Hier könnte es im Laufe des nächsten Jahrzehnts insofern große Fortschritte geben, als ein erheblicher Teil der Zeitzeugen noch lebt und die schnell wachsenden Probleme in der wiedervereinigten Bundesrepublik das Verlangen nach verbindenden Identifikationsmöglichkeiten verstärken dürften.

Doch auch in bezug auf die Vertreibung gäbe es weiterhin genügend Möglichkeiten, diesen Teil der gesamtdeutschen Geschichte faßbar zu machen, ihn mit Bildern und Stimmungen zu füllen. Am unkompliziertesten geht das zwischen Rhein und Oder, also an den Stätten des schweren Neubeginns der ihrer Heimat beraubten Menschen.

Es gibt Tausende Orte, die bewegende Geschichten erzählen können - Reste einstiger Barackenlager, Notunterkünfte aller Art und von Flüchtlingen gegründete Kommunen wie Espelkamp in Westfalen, Kaufbeuren-Neugablonz (siehe PAZ 21/03, S. 7) oder die donauschwäbische Vertriebenensiedlung Stuttgart-Zuffenhausen.

An dieser Stelle soll beispielhaft auf die Historie einer winzigen Ortschaft hingewiesen werden: Neubelgern (sorbisch: Nowa Bela Hora) in der Oberlausitz.

Wer auf der neuen Autobahn in Richtung Görlitz fährt und diese knapp östlich von Bautzen südwärts verläßt, findet das nur eine Handvoll Gebäude umfassende Dorf auf halbem Weg zwischen Bautzen und Weißenberg. So unscheinbar Neubelgern auch anmutet, um so bemerkenswerter ist seine Entstehung. Aufgebaut wurde der Weiler nämlich erst ab 1948 von ostdeutschen Flüchtlingen. Ein ganzer Familienverband ließ sich dort nieder, nachdem man im Januar 1945 zusammen die Flucht aus Schlesien angetreten hatte.

Eigentlich wollten sich die Familien Selma Tschipke (5 Kinder), Lisbeth Tschipke (5 Kinder) und Reinhold Schulz (mit Frau und 5 Kindern) sowie einige weitere Verwandte bloß weiter im Westen bei einer Tante versammeln, um in Sicherheit das Kriegsende abzuwarten und dann wieder in die Heimat zurückzukehren. Doch es kam alles ganz anders.

Zunächst erfolgte im Juli 1945 die Einquartierung ins Schloß Wurschen östlich von Bautzen, wo einige Familienmitglieder noch bis Mai 1953 unter sehr beengten Verhältnissen leben mußten.

Nach Ostern 1948 wurde der Grundstein für ein erstes Haus in Neubelgern gelegt und damit zugleich dem von harter bäuerlicher Arbeit geprägten gemeinsamen Neubeginn ein äußerer Rahmen gegeben. Drei weitere Häuser entstanden 1950, und ein letzter Hausbau folgte Anfang 1952. In einer privaten Ortschronik von 1988 heißt es trotz aller sonst unverkennbaren Vorsicht der Verfasser angesichts des damals ja noch bestehenden kommunistischen Unterdrückungsapparates: "Der Wille zum Überleben war aber nicht das Grundmotiv unseres gemeinsamen Handelns. (...) Wir haben uns nicht in unserer neuen Umgebung umgeschaut, um ihren Lebensstil zu übernehmen. So weit es ging, wollten wir unseren Stil beibehalten."

Tatsächlich zeigte das Zusammenleben der Familien- und Ortsgemeinschaft Neubelgern, wie in der DDR unangepaßtes Leben gelebt wurde. Zum einen war da die Herkunft aus Schlesien, die entgegen der offiziösen Linie im Bewußtsein blieb (ausgedrückt etwa durch das Singen heimatlicher Lieder) und die einzelne Familienglieder noch 1988 zu einer Reise zum alten Hof in Gellendorf im Kreis Trebnitz bei Breslau veranlaßte.

Außerdem verband diese Menschen, und das war das wichtigste Motiv ihrer Ablehnung der DDR, ein fest verankerter Glaube. Allesamt waren sie nicht nur verwandt, sondern gehörten bereits in Schlesien der Evangelischen Gemeinschaft an, die sich 1968 mit der Evangelisch-Methodistischen Kirche vereinigte. Von Anfang an konnte man ein Gemeindezentrum in Belgern nutzen. Dort oder in Neubelgern fanden über Jahrzehnte hinweg regelmäßige Treffen ("Singestunden", "Bibelstunden") oder christliche Freizeiten statt.

Die atheistische Propaganda des Staates konnte nie durchdringen, die vom Staat anstelle von Konfirmationen und Kommunionen durchgeführten "Jugendweihen" wurden abgelehnt, und der Eintritt in die kommunistische Partei war kein Thema. Folgerichtig blieben Repressionen nicht aus, angefangen bei der Kollektivierung der Bauernwirtschaften bis hin zu Benachteiligungen im Berufsleben (etwa hinsichtlich von Studienwünschen). Zu den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) fällt der Kommentar der Ortschronik sehr deutlich aus: "Was man zu Anfang als notwendige Maßnahme für schlechte Bauern akzeptiert hatte, sollte nun Maßstab werden. Hatte man sich nach dem Krieg im fremden Land etwa dafür gemüht wieder eine Wirtschaft aufzubauen, um jetzt sein Leben als Landarbeiter zu fristen?"

Erst angesichts des immer stärker werdenden Drucks beantragten die Dorfbewohner 1959 die Aufnahme in eine LPG. Doch auch weiterhin arrangierte man sich nur so weit, wie es als unumgänglich empfunden wurde. Und als 1989/90 die Wiedervereinigung kam, war die Freude in Neubelgern groß.

Historie am Wegesrand: Ein von Flüchtlingen aufgebautes Dorf