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© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Juli 2003 |
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Vater grosser Romanhelden Biographie über den Autor und Theoretiker Dostojewskij Sein Lesepublikum zählt nach Millionen. Alle Fragen und Probleme, die Dostojewski aufwarf, die er vielschichtig reflektierte und zu klären versuchte, fesseln jede Generation neu. Christine Hamel gelingt es, Dostojewskis Leben und Ideenwelt, eingebettet in die russische Geschichte des 19. Jahrhunderts, knapp und prägnant zu bearbeiten. Fjodor M. Dostojewski (1821-1881) schilderte Romangestalten, die am Leben ähnlich verzweifelten wie er selbst. Von Beruf Ingenieur, arbeitete er ab 1844 als Schriftsteller und sympathisierte mit westlichen sozialistischen Ideen. Wegen der Mitgliedschaft in einer oppositionellen Gruppe wurde er 1849 zu vier Jahren Straflager in Sibirien verurteilt. "Wir sind zusammengepfercht wie die Heringe in einem Faß ... Alle Zuchthäusler stinken wie die Schweine". Nach dem Ende der Haft mußte Dostojewski zwangsweise Militärdienst ableisten. Dem Roman "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" liegt das im zaristischen Gulag erlittene Unrecht zugrunde. Trotz großer schriftstellerischer Erfolge lebte Dostojewski - auch wegen seiner fatalen Spielleidenschaft - oft in großer Armut, bettelte regelmäßig bei Verwandten und Berufskollegen und wurde von epileptischen Anfällen heimgesucht. In sibirischer Not schöpfte Dostojewski Kraft aus sich selbst. Er bekehrte sich zum christlich-orthodoxen Glauben und lehnte westliches Denken, das ihm atheistisch erschien, fortan radikal ab. Rußlands Elend sei nicht sozial bedingt; es wurzele in der geistigen Einstellung der Menschen. Dostojewski postulierte eine "Revolution der Seele" und wollte an Gott glauben, blieb jedoch stets ein Zweifler und Skeptiker. "Wie entsetzlich quält mich die Sehnsucht nach dem Glauben, die um so stärker ist, je mehr Gegenbeweise ich habe". Während des Krimkrieges stand Rußland allein gegen den Westen. Dostojewski forderte die "sittliche Befreiung" der Slawen. "Ich war immer durch und durch Russe". Seine Wandlung zum nationalrussischen Patrioten veranlaßte ihn sogar, Lobgedichte auf Zar Nikolaus I. zu verfassen, dessen Schergen ihn nach Sibirien verschleppt hatten. "Etwas plump", glaubt Hamel, "stapft Dostojewski nun von einem Paradies (Sozialismus) ins verheißene andere (Altrussentum)", obwohl ihn die Geheimpolizei bis an sein Lebensende mißtrauisch beäugte. Somit geriet Dostojewski in das zerwühlte Rußland der 1860er Jahre, das unter Alexander II. die Leibeigenschaft aufhob und einen säkularen Streit auskämpfte, den Konflikt zwischen "Westlern" und "Slawophilen", die im heutigen Rußland - unter anderen Vorzeichen - wiederum aufeinander prallen. 1862 besuchte er Westeuropa, wo Dostojewski allenthalben "schrankenlosen Egoismus, Profitgier und blinden Vernunftglauben" zu entdecken meinte. Die russische Orthodoxie müsse den unreligiösen Katholizismus bekämpfen, der nur eine "Reichsideologie" darstelle. Dostojewski sah einen fundamentalen Gegensatz "zwischen dem slawischen Genius und der europäischen Zivilisation". Ebenso verurteilte er Sozialismus und Nihilismus als gescheiterte Ersatzreligionen. Die arithmetische Vernunft westlicher Heilsbringer, schrieb der Dichter in "Schuld und Sühne", wolle die Menschheit "im Nu gerecht und sündlos machen vor jedem lebendigen Prozeß, ohne jeden historischen und lebendigen Entwicklungsgang!". Moralische Ideen, so die Hauptthese von "Schuld und Sühne", "entstehen aus religiösen Gefühlen. Logik kann sie niemals rechtfertigen". Im Roman "Der Idiot" verkörpert ein christlich-russischer Fürst die "Gegenwehr des Ostens gegen den Westen". Jede Nation, die kein göttliches Sendungsbewußtsein erfülle, heißt es in den "Dämonen", sei allenfalls "ethnographisches Material". Rußland müsse mit der petrinischen Reformära brechen und seinen "Volksgeist", die "russische Scholle", neu entdecken. Der russische Charakter berge die Fähigkeit zur "Allaussöhnung", und Dostojewski erwartete die Erlösung der Welt "einzig und allein durch den russischen Gedanken, den russischen Gott und Christus. Sie werden sehen, was für ein mächtiger, weiser und sanfter Riese vor der verwundeten Welt emporwachsen wird". Deutsche Theoretiker der "konservativen Revolution", beispielsweise Oswald Spengler, zitierten oft und gern Dostojewski, ungeachtet der Tatsache, daß dieser sich stets abfällig über Deutschland geäußert hatte. Hamel nennt Dostojewskis "russische Idee" ein "diffuses Konzept". Darin ist ihr beizupflichten, aber sind nicht alle Heilslehren "diffus"? Ein solches Verdikt ersetzt keine vertiefte Interpretation der Gedanken des russischen Dichters. Bloße Deskription genügt bei weitem nicht. Der Glaube an die "einzig richtige" Theorie, schrieb Dostojewski, ende mit Mord und Totschlag, und er ahnte damit die Schrecken des 20. Jahrhunderts voraus. Doch zeigt die historische Erfahrung, daß auch religiöser Dogmatismus die Menschheit nicht klüger und weiser macht, sondern in die Barbarei stürzt. Aber es hieße, Dostojewski falsch zu verstehen, wollte man ihn als Fahnenträger mystischer Prinzipien begreifen. Hätte er nur die "russische Idee" propagiert, wäre er vermutlich längst vergessen. Nicht nur, daß er seine eigenen religiösen Maximen immer wieder bezweifelte. Hamel betont die "offene, dialogisch und dialektisch widersprüchliche Struktur" seiner "polyphonen" Romane, die den Leser zum Nachdenken beinahe zwingen. Am meisterhaftesten gelang dies Dostojewski in "Die Brüder Karamasow". Alle seine Romanhelden repräsentieren spezifische Ideen, die im Gespräch mit anderen entfaltet werden, ohne daß der Autor Partei ergreift. Letztlich fand Dostojewski nie, was er suchte. Hamel hat eine sehr empfehlenswerte Einführung in das Lebenswerk dieses Schriftstellers vorgelegt. Rolf Helfert Christine Hamel: "Fjodor M. Dostojewski", dtv, München 2003, 188 Seiten, 9,50 Euro |