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© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 02. August 2003 |
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Gedanken zur Zeit: "Die Zone der totalen Ruhe" Neuerscheinung von Gerhard Wolter beschreibt das Leid der Rußlanddeutschen von Wilfried Böhm Man nahm uns die Heimat, das Haus, das Vermögen, den guten Namen. Man nahm uns auch das weg, was den Menschen vom Tier unterscheidet - das Recht zu sprechen. Uns hat es auf der Welt einfach nicht gegeben. Das heißt: uns gab es schon. Es gab uns in den Lagern und in der Verbannung, bei den schwersten Bauarbeiten und beim Holzfällen, es gab uns in den geheimen Listen von NKWD und NKGB. Doch für die übrige Welt existierten wir nicht. Niemand wußte etwas von uns, von unserem Schicksal. Und, um ehrlich zu sein, niemand wollte es auch wissen." Alexander Heiser stellt diese Worte dem Buch "Die Zone der totalen Ruhe" von Gerhard Wolter voran, das jetzt im Waldemar Weber Verlag in Augsburg erschienen ist. Dieses Buch zerreißt den Schleier des Schweigens über dem Genozid am Volk der Rußlanddeutschen. Es besteht aus den Erinnerungen von ehemaligen Insassen der sowjetischen Konzentrationslager - zu denen auch der Verfasser gehörte - und will an das Schicksal dieser Menschen in den Jahren des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit erinnern. Fast eine Million Rußlanddeutsche - alle, von Neugeborenen bis zu den sterbenden Alten - wurden aus ihrem Heim herausgezwungen. Im harten sibirischen Winter wurden die Familien zerrissen. In isolierten Sonderlagern hatten sie Zwangsarbeit zu leisten mit dem Ziel, auf sie geistigen und physischen Druck auszuüben, um sie zu vernichten. Jeder dritte Rußlanddeutsche starb, doch auch das war für die Kommunisten nicht genug. Nach Kriegsende wurden die Rußlanddeutschen "für immer" in ihren Vertreibungsgebieten angesiedelt und unter Aufsicht einer Sonderkommandantur des KGB gestellt. Der Tod Stalins befreite sie zwar von der erniedrigenden Sonderaufsicht, aber ihre Rechte wurden nie in vollem Maße wiederhergestellt. Die ganze Wahrheit des an ihnen verübten Unrechts wurde nie aufgedeckt, in einer anderen Form dauerte es bis heute an, denn nach der Stalin-Zeit wurde die Repression nicht beendet, die Rückkehr in die alten Heimatgebiete in Rußland nicht erlaubt. Auch die Herrscher der "Perestroika" und der "Demokratisierung" stellten zum Beispiel der Wiederherstellung der Autonomie an der Wolga immer neue Hindernisse entgegen. Der Weg zur ethnischen Vernichtung des rußlanddeutschen Volkes setzte sich in dem Maße fort, in dem angesichts der bitteren Realitäten in ihre Herzen Gleichgültigkeit, Pessimismus und Angst einzogen. Wörtlich schreibt Wolter: "Die Jahrzehnte der Rechtlosigkeit und Verspottung verschluckten unwiederbringlich die in Jahrhunderten bewahrten Werte der materiellen und geistigen Kultur, die von den vorangegangenen Geschlechtern ererbten europäischen Traditionen, die Volksbräuche, die Riten. Ungeheuerlich sind die Verluste, die das sowjetische System von Stalin und Berija der rußlanddeutschen Literatur- und Umgangssprache zufügte, dem Hauptindikator von Kultur und Wohlstand eines Volkes." So war 1939 für 88,4 Prozent der Rußlanddeutschen Deutsch die Muttersprache, 1959 für 75 Prozent, 1989 nur noch für 48,8 Prozent mit immer rascher werdender Abnahmetendenz, so daß Wolter sagt, Anfang des 21. Jahrhunderts werde sie "praktisch verschwunden sein". Diese Entwicklung ist, so Wolter, das Spiegelbild für das geschwundene nationale Selbstbewußtsein und einer ausweglosen Krise der allgemeinen Volkskultur. Die Erkenntnis, "daß der Staat und die Gesellschaft die niedergetretene Gerechtigkeit weder wiederherstellen wollten noch dazu imstande waren, stürzte die Rußlanddeutschen in den Zustand tiefster nationaler Depression hinab", schrieb Wolter. Dem natürlichen Instinkt der Selbsterhaltung folgend, habe es nur noch einen Ausweg gegeben, um der Auflösung in einer fremden Kultur und dem völligen Verschwinden zu entgehen: den Weg in die historische Heimat, nach Deutschland zu gehen. Das Buch von Wolters ist das eindrucksvolle Denkmal für die hunderttausend Menschen, die ohne Schuld, nur wegen ihrer deutschen Herkunft, verschleppt, gequält und getötet wurden und deren Stimmen man nie wieder hören wird. Es gibt nur wenige Bücher, die wie dieses vermögen, ihre Leser mit Informationen und zugleich mit Gefühlen von Entsetzen, Mitleid, Empörung und Scham über menschliche Grausamkeit zu erfüllen. Bedauerlich ist nur, daß die 45 Seiten der russischen Fassung des Buches, in denen der dramatische Kampf der rußlanddeutschen Rehabilitationsbewegung "Wiedergeburt" nach dem Zusammenbruch des Kommunismus dargestellt wird, in den deutschen Text nicht aufgenommen worden sind. Darin wird die "Wiedergeburt" zutreffend als wichtigste gesellschaftliche Vereinigung der rußlanddeutschen Volksgruppe und Heinrich Groth als ihr Gründer und langjähriger Führer bezeichnet. Das gleichgewichtige Streben nach Wiederherstellung der Wolga-Republik, Unterstützung der Ausreisewilligen und Hilfe für diejenigen, die bleiben wollen, war das Ziel des aus dem gesamtnationalen Kongreß hervorgegangenen Zwischenstaatlichen Rates der Rußlanddeutschen. Wolter erinnert daran, daß die Vorfahren der Rußlanddeutschen vor mehr als zweihundert Jahren der Zarin Katharina der Großen vertrauten und nicht voraussehen konnten, daß irgendwann andere Machthaber in Rußland die Nachkommen dieser Kolonisten aus ihren mit Tränen und Schweiß kultivierten neuen Heimatgebieten vertreiben, sie über die grenzenlosen asiatischen Weiten verstreuen und danach "hunderttausende unschuldiger Menschen in Lagerstaub verwandeln würden". Wie sollten sie auch ahnen, daß irgendwann einmal mit den Völkern ihrer neuen Heimat ein ungeheuerliches Experiment unternommen werden würde, um ein neues außernationales "Volk" zu schaffen, eine "sozialistische Nation", und daß ihre Nachkommen, die Rußlanddeutschen, nicht einmal im Rahmen dieser "Nation" einen Platz fänden, sondern dem Vergessen anheimfallen sollten? So gesehen, erweist sich das Schicksal der Rußlanddeutschen als eine Tragödie historischer Dimension. Die in der Zuwanderung nach Deutschland angelegte Herausforderung, die Erfahrungen und Kenntnisse der Rußlanddeutschen als Chance für das zukünftige Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands in Europa zu begreifen, wurde in der westfixierten Bundesrepublik nicht genutzt. Dadurch wurde die Chance einer weitgehend gemeinschaftlichen Ansiedlung nicht ergriffen. Statt dessen setzte der "Verteilungsschlüssel" des Bundes die Verstreuung fort und erzwang die individuelle "Integration" in den bundesdeutschen "way of life". Ob es unter diesen Bedingungen zu einer Renaissance des kulturellen Erbes der Rußlanddeutschen kommen kann, ist mehr als fraglich. Ein für diesen Monat vorgesehenes Treffen der nunmehr in Deutschland lebenden gewählten Delegierten der drei Moskauer Kongresse könnte erste Auskunft darüber geben.
Der 1923 in der Ukraine geborene Gerhard Wolter wurde im Herbst 1941 aus seiner Heimat nach Kasachstan vertrieben. Von 1942 bis 1946 war er Zwangsarbeiter im GULag. Später musste er unter der Aufsicht der Staatssicherheit als "Sondersiedler" leben. Nach einem Studium durfte er unterrichten, erst im Ural, später in Kirgisien. 1996 siedelte der 1998 Verstorbene in die Bundesrepublik überGerhard Wolter: "Die Zone der totalen Ruhe", Waldemar Weber, Augsburg, gebunden, 480 Seiten, 17,90 Euro |