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02.08.03 / Liebe Verwandtschaft

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 02. August 2003


Liebe Verwandtschaft
von Eva Pultke-Sradnick

Tante Anna traute ihren Augen nicht, als sich fünf Fahrräder mit ihren Besitzern auf den Hof schoben. Wer konnte das denn nur sein? Erbarmung, doch nicht etwa die Kinder ihrer Schwester Susi? Ähnlich täte es ihr ja sehen. Kein Sterbenswörtchen schreiben und dann mit der Tür ins Haus fallen. Eilig trocknete sie sich die Hände an der Schürze ab und stürzte hinaus. Dann breitete sie ihre Arme aus, als ob sie alle auf einmal umfassen wollte. "Aower Kinderkes, wo koam ju denn her? Mänsch, Hannes, böst du vleicht de Anfehrer von dissem kleene Hupe? Send ju ganz alleen von Metgethe gekoame? Wo heww ju denn june Mutter geloate?"

"Ach", meinte Lucie kess, "sie braucht Erholung. Wir würden ihr nur auf die Nerven gehen. Sie meinte, daß du dich bestimmt freuen würdest, wenn wir kämen." - "Dann könnten wir uns hier so richtig austoben, die Seeluft genießen, und dir auch helfen", ergänzte Sigi, "weil du doch immer so viel Arbeit hast." Anna lachte innerlich, na ja, sie kannte ihre Schwester.

"Na denn koamt man renn!" Sie gab Lucie einen Kuß auf die Wange, Sigi, Paulchen und Peter bekamen ein Strubbeln über den Kopf und Hannes einen anerkennenden Klaps auf den Rücken. Sie bugsierte alle in die Fliederlaube, in der ein Steintopf mit Apfelsuppe stand. Sie war schon lauwarm abgekühlt und genau richtig für durstige Kehlen. Aber jetzt war guter Rat teuer, wo sollten diese kleinen Strempel denn schlafen, es war doch alles vermietet. Unter dem Dach, auf der Lucht, da schliefen sie doch schon selbst!

Dann großes Erzählen, Lachen und immer wieder das Kreisen des Schöpflöffels vom Topf in die Becher, zu dem sich noch ein großer Teller belegter Brote gesellt hatte. Radfahren macht hungrig, das wußte jeder. Es ging auf Mittag zu und Gerda und Ulla, Annas Kinder, kamen vom Baden. Es waren Sommerferien. Das gab ein Freuen und Johlen. Natürlich mußten sie bleiben. Den Platz zum Schlafen hatten die Kinder sich bald selbst zurechtgebaut. Und wer Ostpreußen nur ein bißchen kannte, weiß, daß man nur zusammenzurücken braucht und zum Zudecken unter der Okelten war im Sommer nicht viel nötig. Wie ein Wunder hatten alle Platz. Gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Hier waren es vornehmlich frische Dorsche, Heringe, Flundern. Aber die Kinder wollten ja gar kein warmes Essen, sie wollten am liebsten den ganzen Tag am Strand sein.

Mit so kleinen Menschlein war das alles nicht problematisch, jedoch fing der Sommer erst an. Anna wollte es manchmal gar nicht glauben, wer sich in der Badesaison alles ihrer Verwandtschaft entsann. Da kamen entfernte Vettern und Cousinchen, sogar schon deren Kinder, die sich als "kleine Cousinen" vorstellten. Flotte Onkeltypen tauchten auf, sogar die mondäne Tante Henriette stand letztes Jahr vor der Tür, mit Hutschachtel! Sie wäre auf der Durchreise, die dann mit dreiwöchiger Dauer bei Anna ihren Höhepunkt fand.

Aber wie das in diesem Land so war, man nahm die Gegebenheiten hin, freute sich sogar und es fand sich immer noch Platz am Tisch. Man rückte zusammen. Selbst die geschiedenen Männer von den Töchtern ihrer Schwester kamen ungeniert "Guten Tag" sagen, denn man war ja im Guten auseinandergegangen. Als dann aber eines Tages Tante Clothilde mit Mops und drittem Ehemann ansegelte, da plä-dierte Anna dafür, den neben ihr wohnenden Onkel August einzubeziehen. Er profitierte schließlich auch von der Familie.

Man konnte Onkel August als Original einordnen. Aber fast jede Großfamilie hatte so etwas aufzuweisen. Es waren keine schwarzen Schafe, manchmal vielleicht liebevoll gesprenktelte. Etwas schrullige Typen konnten darunter sein, die ihre Eigenheiten besaßen und diese bewußt oder unbewußt auslebten. Sie wurden ohne Häme genommen wie sie nun mal waren, höchstens ein bißchen belächelt, aber nie ausgelacht.

Onkel August gehörte auch ein wenig dazu. Als Kleinkind hatte er Diphtherie gehabt und einen Hör- und Sprachfehler zurückbehalten. Er konnte schlecht artikulieren, war aber sonst dem Leben zugetan. Er überlebte zwei Frauen, hatte drei Kinder gezeugt und hatte vom Alter her noch sehr gute Lebenserwartungen. Arbeiten mußte er nicht. Er hatte einen gut gebauten Körper, und die Damen erfreuten sich der etwas komplizierten Unterhaltung. Sie hielten ihn wohl für einen Exoten. Die Ehemänner kamen vielfach nur an den Wochenenden nach Sorgenau und auch Strand und Wasser konnten auf die Dauer langweilig werden. Onkel August genoß das Badeleben mit seiner ganzen bunten Palette, so wie es sich kein anderer Dorfbewohner leisten konnte.

Zur weiteren Sippe gehörte auch ein Zollbeamter, der mit seiner Familie in Königsberg wohnte und sich nur im Sommer auf seinen Ursprung besann. Er war unabkömmlich und kam somit auch nur am Wochenende. Dann trat er aber in voller Uniform mit eingehängtem Säbel auf und legte diese Kleidungsstücke bei seinen Spaziergängen durch das Dorf nicht ab. Er spazierte lange und viel und auch 30 Grad im Schatten konnten ihn kaum davon abhalten. Er erklärte seinen Verwandten und allen Freunden seiner Jugend die Welt und er war überzeugt, daß nur er den Durchblick hatte. Ein kleiner Napoleon. Aber man ließ ihn, er tat ja keinem weh, denn jedes Tierchen hat sein Pläsierchen.

Dann war da noch Willy. Er war bei der Marine. Und wenn er in Kiel vor Anker lag, dann kam er auch die Familie besuchen. Mit seiner blauen Uniform und dem Affenjäckchen (wie wir sagten), der braunen Haut, den funkelnden lächelnden Augen, war er ein Bild von einem Mann. Er liebte das Leben und die Menschen und war großzügig mit seinem Charme zu jung und alt. Ob Mütterchen oder Kind, Willy beglückte alle. Am liebsten aber ging er abends in den Krug zu den Fischern. Denn auch sie waren alle in ihrer Jugend zur See gefahren, kannten sich aus. Da ging es dann bald zu wie in der Hafenbar. Willy hatte natürlich immer die Spendierhosen an, was seiner Mutter nach seiner Abfahrt oft sehr teuer zu stehen kam. Willychen ließ nämlich anschreiben.

Ja, so war das Leben und es lief alles in geordneten Bahnen und einer stand für den anderen ein. Man freute sich, wenn die Verwandten kamen - aber man war auch wieder gerne allein.

Und wären diese Familienbande nicht so stark gewesen, man hätte sich nach dieser grauenhaften Vertreibung aus der Heimat nie zusammenfinden können.