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09.08.03 / Besonderer Schutzengel

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. August 2003


Besonderer Schutzengel
von Werner Krieger

Es war vor Jahrzehnten. Ein grauenvoller Krieg war vorüber, doch das qualvolle Sterben ging in den Gefangenenlagern weiter. Nicht mehr mit ohrenbetäubendem Donnerschlag kam der Tod, jetzt war es der stille Tod und still ließ man ihn zu. Der Tod fand in den Hoffnungslosen und Verhungernden seine wehrlosen Opfer, viele Opfer, allzu viele Opfer.

Körperlich schwere Arbeit bei zu karger Kost nahm die Kräfte und ein anhaltender Durchfall zehrte meinen Körper aus. Es war eine eisige Winternacht, als man mich in einem offenen Lastwagen in eine Krankenstation fuhr. Auf den Beinen hielt mich nur noch der Wille und willenlos ließ ich mich leiten, in widersprüchlicher Gleichzeitigkeit. Ich wurde abgesondert und - eine spätere Wahrnehmung - in einen schmalen, rechteckigen Raum geführt, ungeheizt, kahle Wände, an der Schmalseite ein zimmerbreites Fenster, an der Langseite ein Bettgestell und in einer Ecke ein unansehnlicher Eimer als Klosett. Ich fiel auf das Bett, vor Kälte zitternd rollte ich mich, wie ein Hund, zusammen, zog mir die abgewetzte Decke bis über den Kopf und war auch schon in tiefer Benommenheit eingeschlafen.

Nun war der Zeitpunkt gekommen, da die Hauptperson meines Berichts - eine russische Ärztin - in den Raum und in mein Leben trat. Sie mußte es gewesen sein, die mich wachrüttelte, denn eine weibliche Stimme sprach einige Worte, die ich nicht verstand. Ich hob die Decke einen Spalt hoch und sah nur eine Hand mit einem Fieberthermometer. Ich nahm es, klemmte es in die Achselhöhle und dämmerte sofort wieder ein. Ein erneutes Schütteln, eine fordernde Hand, ich reichte das Thermometer unter der Decke heraus und schlief weiter.

Es war wohl kurz darauf, daß mir dieselbe Hand ein zweites Mal den Fiebermesser hinhielt, ich steckte ihn unter die Achsel, preßte den Oberarm fest an den Körper und sah nur noch, schon einschlafend, daß diese Gestalt im langen, weißen Arztkittel vor meiner Liege stehenblieb. Nach kurzer Zeit wurde mir das Thermometer abgenommen, ohne daß ich richtig wach wurde.

Später erst wurde mir bewußt, daß diese wenigen Minuten der zweiten Fiebermessung über Leben oder Tod entschieden hatten. Wie schnell hätte mein Arm im Schlaf erschlaffen können, wie leicht hätte das Fieberthermometer verrutschen können! Es hätte nicht die gleiche erhöhte Körpertemperatur angezeigt, und ich wäre als betrügerischer Heuchler in ein Arbeitslager abgeschoben worden. - Das aber wußte mein Schutzengel, zuverlässig und zupackend, zu verhüten! Er stützte gewiß meinen Arm, während ich diese dramatischen Minuten seelenruhig verschlief.

So ließ man mich liegen, alleine, unbeachtet und wartete ab. Ich aber schlief und schlief. Dieses Herausgleiten aus dem Wachsein und das langsame Eintauchen in einen traumlosen Schlaf war wie ein beglückendes schwereloses Schweben, in dem es keine Kälte, keinen Hunger und Durst, keine Schmerzen und keine Verlassenheit gab.

Gib einfach auf und wehre dich nicht, so lockte eine innere Stimme verführerisch und ich gab mich ihr kraftlos hin. Mit Besorgnis erkannte mein Schutzengel die drohende Gefahr. Er griff ein. In den kurzen Phasen, da ich wach wurde - oder war er es, der mich von Zeit zu Zeit wachrüttelte - legte er mir beharrlich immer nur ein und dasselbe Wort in den Sinn, das zwingende "Danke"! Das war anfangs eine mühselige, schwere Arbeit, doch die wachen Abschnitte wurden tatsächlich ein ums andere mal länger. Der Zwang und die Überwindung zum Denken zogen mich ins Leben zurück.

Unvergessen jener sonnige Wintertag, da ich zum ersten Mal unter meiner Decke, sonnengeblendet, hervorkroch, mich im Bett aufrecht hinsetzte, mit dem Rücken an die Wand lehnte, um mich schaute und nur still staunte. Die Fensterscheibe war dick zugefroren und verwehrte den Blick nach draußen. Doch das Sonnenlicht drang und strahlte ungehemmt durch die Eisblumen zu mir herein und ließ die ganze Fensterfläche in unzähligen Eiskristallen aufblitzen und funkeln wie ein Wunder, so einmalig, so unmachbar und auf Zeit doch so unhaltbar.

Man verlegte mich in einen Saal mit ungefähr fünfzig Bettstellen. Nun folgten Wochen und Monate, die gleichförmig und berechenbar abliefen. Es nistete sich ein zweifelhaftes Gefühl der Aufgehobenheit und sogar der Zufriedenheit ein - trotz Gefangenschaft! Eine Abwechslung, die schon im voraus Aufregung und Befürchtung auslöste, war die regelmäßige Untersuchung zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit. Diese ärztliche Maßnahme konzentrierte sich auf eine "Inspektion" der Gesäßbacken, und "augenblicklich" war eine rasche Entscheidung getroffen.

Für mich aber war es nach langem eine abermalige Begegnung mit der Ärztin. Jetzt sah ich sie in Lebensgröße und doch nur mit einem flüchtigen Blick, denn die aus Schwäche erklärbare Teilnahmslosigkeit und nicht zuletzt die beschämende Situation ließen mich durch sie ins Leere blicken. Mit sehenden Augen nicht sehen (bibl. Sprw.). Ich musterte die Ärztin also absichtlich nicht so eindringlich und aufdringlich, daß ich sie bis ins einzelne beschreiben könnte. Dieses Verhalten hatte einen angeborenen und einen benennbaren Grund: das Schamgefühl. Eine "Beschau" der von Hüllen und Würde Entkleideten!

Es folgten noch viele solcher Untersuchungen. Oft setzte die Ärztin ihr Stethoskop auf eine Stelle im Brustbereich, wo vor Jahren, in der Rekrutenzeit, eine trockene Rippenfellentzündung eine Schwarte mit dem typischen Reibegeräusch hinterlassen hatte. Und immer bleiben dieses "knarrende" Geräusch und der schlechte Körperzustand.

War die Ärztin ratlos, beunruhigt? Befürchtete sie hier einen entzündlichen, womöglich ansteckenden Prozeß? Ihr standen kein Instrumentarium, keine ärztlichen Geräte und kein auswertendes Laboratorium zur Verfügung. Hatte sie sich - mit vielleicht wenig Berufserfahrung - in Mutmaßungen verfangen? Offene Fragen und Vermutungen. Tatsache war, daß sie mir gleichsam "Herberge" gab, mich über Monate weder aus diesen schützenden Mauern, noch in das zermürbende Lagerleben, wohl aber in die Heimat schickte. Ich wurde entlassen, noch ehe es wieder Winter wurde!

So fügten sich viele Einzelheiten und manches Erdrückende zum guten und selbst diese Krankheit mußte sein. Mein Weg führte durch sie hindurch und in wunderbaren Fügungen schließlich zu einem Leben in Freiheit.

Viele Jahre waren seitdem vergangen. Eines Tages, auf einem Spaziergang, schob sich, ohne daß ich daran dachte, eine Frage in meine Gedanken, eine Frage, die zugleich Antwort ist: "Kann es nicht sein, daß die Ärztin dieses ‚Lungengeräusch' zum Vorwand für meine Entlassung nahm? Genau wissend, was sie da tat!"

Elend im Krieg: Im Sammellager warten die Gefangenen auf ihr weiteres Schicksal Foto: Archiv