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09.08.03 / Nichts ist vergessen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. August 2003


Nichts ist vergessen
´von Christel Bethke

Ein Brief kommt an und alles ist wieder da, nichts ist vergangen, schon gar nicht vergessen. Immer wieder ein nackter Mensch auf nackter Erde. Daß man weiterleben konnte! Und scheinbar sogar recht zufrieden. Nun aber wieder dies: "Warum ich mich an diesen Tag so genau erinnere", heißt es da, "weil es mein 15. Geburtstag war. Auf der Straße war kein Vorwärtskommen mehr und wir waren mit vielen anderen Flüchtlingen auf ein Feldstück in der Nähe einer bewaldeten Schlucht eingebogen. Die Sonne wärmte schon etwas und auf kleineren Feuern wurde abgekocht.

Ich selbst war mit meinen Haaren beschäftigt, die ich am Vorabend meines Geburtstages noch zu Hause auf Papier aufgerollt hatte, als Beschuß die Idylle beendete. Jeder, der es noch vermochte, rannte so schnell er konnte in die Schlucht, die es teilweise zu erklettern galt. Um Mitternacht ließ der Beschuß nach, und plötzlich waren deutsche Soldaten da, die versicherten, daß uns die Russen nicht erreichen würden. Unser Liebling, ein weißer Seidenspitz, hatte sich ängstlich zu Mutters Füßen gekauert und stand nicht mehr auf. Ein Granatsplitter hatte ihn getroffen. Eine weinende Frau hielt ihren toten Säugling im Arm. Als wir am Morgen den Platz aufsuchten, an dem wir gerastet hatten, bot sich uns ein Bild des Grauens. Zum ersten Mal sah ich zerfetzte Menschen und Pferde mit aufgerissenen starren Augen. Stille, und dann waren sie da."

Jedes Jahr, heißt es in dem Brief, stellt sich um diese Jahreszeit alles wieder ein. Auf mehr als zehn Seiten folgte eine Geschichte, die unvorstellbar sein könnte, wenn man nicht gelernt hätte, daß Unvorstellbares auch Realität sein kann und immer noch ist. Es gibt von damals keine Bilder, die das kommentieren, was hier geschildert wird, im Gegensatz zu heute. Alle verband ein Schicksal und jeder hatte dazu noch sein eigenes. Weil kein Wasser da war, heißt es weiter, uriniert die Mutter in eine leere Konservenbüchse, um die Tochter von den Spuren zu säubern, die ein Russe auf ihr hinterlassen hat.

Zurück ins Dorf, wo sie ihr kleines Haus dicht belegt vorfinden. Der Kopf ihrer jüngsten Kuh liegt in der Jauchegrube. Der Balg der Puppe im Dreck. Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Später lernen die Frauen, wie man sich schützen kann. Gut, wenn man einen Beschützer findet. Das Mädchen weiß, woher das Brot stammt, das es manchmal zu essen hat und die Kartoffeln, um den Hunger zu stillen, und der nimmt in dieser Zeit das ganze Denken ein.

Dann Arbeit. Es gilt, ein Dorf, eine Stadt zu leeren, einzupacken, was nicht niet- und nagelfest ist, und das auch noch. Und überall, schreibt sie: "Scheiße. Nicht nur auf der Erde, sondern auch auf Tischen usw. Weil der Magen leer ist, gibt es nicht mal ein Erbrechen."

Verlust des Vaters, der bis zuletzt nicht glauben wollte, daß es zur Flucht kommen würde. Zu spät die Reue. Typhus. Mutter und Tochter überleben. Zu Hause aber keine Chance dafür. Das Vieh ist nach Rußland getrieben worden und da erscheint Litauen als das gelobte Land. Durch Betteln überleben sie getrennt die nächsten fünf Jahre. Dann der Aufruf an alle Deutschen, sich in Tauroggen zu einem Transport nach Deutschland einzufinden. Welche Freude, welch ein Jubel, schreibt sie: "Wie bei den Russen am 8. Mai ,Wenna kaputt'." Und die Natur, schreibt sie weiter, als ob nichts gewesen wäre, die Vögel sangen wieder, die Bäume fingen zu blühen an. Deutschland ist für die Heimkehrer die DDR. Sofort wird ein Stück Land gepachtet, um versorgt zu sein, und das Leben beginnt.

Ein Leben mit solchen Bildern auf der Seele ist schwer zu leben. Aber es geht. Wenn nur nicht diese Wiederkehr der Jahreszahlen und Jahreszeiten wäre. Geburtstage, die nie mehr unbeschwert gefeiert werden können, kein Frühling mehr, ohne sich erinnern zu müssen. Nichts von Therapie, nichts von Betreuung der verletzten Seele und der Mensch wundert sich über Schicksale, die ähnlich verliefen und wo Vergangenheit so sorglos umgangen werden kann.

Solche Bilder sitzen tief und wenn da nichts ist, woran der Mensch sich halten kann, ist er verloren. Trotzdem finde ich auch folgende Sätze in dem Brief: "Ich gehöre zu den Überlebenden. Wir entdeckten nicht Amerika, sondern Litauen und das bewahrte uns vor dem Hungertode. Manchmal frage ich mich heute noch, ob wir uns wohl auch so wie die menschenfreundlichen Litauer verhalten hätten, wäre es umgekehrt gekommen.

Dann, als es uns ‚gut' ging, freuten wir uns dennoch sehr, wenn uns zu Weihnachten ein Paket aus dem ‚goldenen' Westen erreichte. Es war eben was Besonderes und unsere Freude war überwältigend. So versuche ich jetzt von meiner kleinen Rente so viel als möglich beiseite zu legen. Ich lebe ganz einfach. Brauche nicht alles, was mir einsuggeriert werden will. Und so schicke ich meinen ‚Überfluß' an die Menschen, die heute dort wohnen, wo einst unsere Heimat war."

Mit Respekt und Hochachtung bewundere ich diese Frau und vielleicht geben ihre von mir zitierten Briefstellen mal wieder Anlaß, sich zu besinnen. Mit uns geht nicht nur eine Generation dahin, sondern eine ganze Epoche zu Ende und das Erinnern an sie. Vielleicht ist das ja gut so.

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Foto: Archiv